Historischer Roman aus dem Oberland:Die Macht der Angst

Claudia Gudelius

Claudia Gudelius hat Medizin und aztekische Sprache studiert. Ihr Lebensthema ist die Freiheit.

(Foto: Manfred Neubauer)

Claudia Gudelius hat in ihrem neuen Buch "Die alte Schuld" eine wahre Geschichte von Hexen und Scharfrichtern aufgeschrieben. Es ist auch ein Plädoyer für Geistesfreiheit und Gleichberechtigung

Von Petra Schneider, Jachenau

Im Jahr 1589 ist die Ernte im Werdenfelser Land wieder einmal schlecht. Hagel und Sturm vernichten das Getreide, schon im Herbst fällt der erste Schnee. Krankheiten und Viehseuchen grassieren, die Bauern müssen hohe Steuern zahlen. Die Juden sind längst des Landes verwiesen, ihre Vermögen kassiert. Die Zeiten sind unsicher, die Angst geht um. Vor allem, seit sie in Garmisch eine Hexe hingerichtet haben: Ursula Klöck, die auf Anordnung des Pflegers Caspar Poißl auf die Burg Werdenfels gebracht wurde, weil ein Nachbar sie angezeigt hatte.

Wie so viele andere Frauen gestand sie unter der Folter Ungeheuerliches: Buhlschaft mit dem Teufel, der ein schuppiges, kaltes Glied habe. Das Ausfahren auf der Heugabel, die Salben, die sie aus den Körperteilen toter Kinder angerührt habe, um damit Tiere und Felder zu verhexen. 50 Frauen und einen Mann hat Caspar Poißl in den Jahren 1589 bis 1591 wegen Hexerei hinrichten lassen, in Schongau ist der Scharfrichter Jörg Abriel für Prozess und Folter zuständig. Die beiden verdienen gut am Hexengeschäft. Sie sind historische Personen, wie ihre unschuldigen Opfer, die Ursula Klöck oder die Kathl Kemser von Wamberg.

In ihrem neuen Roman "Die alte Schuld" hat Claudia Gudelius die traurige Geschichte der Hexenverfolgung verarbeitet und ein ebenso spannendes wie düsteres Bild des ausgehenden 16. Jahrhunderts gezeichnet. Bücherstapel liegen auf dem Tisch ihres Hauses in der Jachenau, darunter Abhandlungen über Galileo oder über die Kunst des Linsenschleifens im Mittelalter. Denn während auf der Alpennordseite Furcht und Aberglauben herrschten, blühten auf der Südseite Wissenschaften und der Glaube an die Macht der Vernunft. "Die Winkelsumme im ebenen Dreieck beträgt immer einhundertachtzig Grad", hatte Galileo gesagt. "Aber die Kirche hat das Wissen verteufelt, um Macht und Deutungshoheit zu behalten", sagt Gudelius. Die Hauptfiguren ihres Romans sind die junge Witwe Toni, die in Ingolstadt Geschirrmacherin gelernt hat und als Rosserin große Gespanne von Garmisch über das Kloster Ettal bis zum Brenner führt, und der Kaufmann Boti, der als Kind von osmanischen Piraten entführt wurde und später in Pisa fasziniert den Vorlesungen Galileis lauscht. Boti und Toni begegnen sich am Brenner, und für einen Moment scheinen Liebe und Glück möglich.

Die Suche der beiden und die Suche nach den Ursachen für Tonis "alte Schuld" ziehen den Leser durch das Buch. Gudelius hat den Roman im Präsens geschrieben, um die Spannung zu erhöhen. Alte Bauernregeln und Dialekteinsprengsel, die sich allerdings ein bisschen sperrig lesen, sollen die Protagonistin und ihr Lebensumfeld authentisch widerspiegeln. "Eine Rosserin aus dem Werdenfels spricht nicht Hochdeutsch", sagt Gudelius. Es gelingt ihr gut, eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen: die Angst vor Satan und Hexen, die Furcht vor Willkür und Denunziation, das Aufkeimen des Zweifels.

Wie die Vorgängerromane ist auch ihr achtes Buch ein leidenschaftliches Plädoyer für Geistesfreiheit und Gleichberechtigung. Frei zu sein, vor allem frei von Vorurteilen, das ist das Lebensthema der 65-Jährigen, die vier erwachsene Kinder hat und mit ihrem Mann in ihrem Elternhaus in der Jachenau lebt. Gudelius hat aztekische Sprache und Medizin studiert. Sie promovierte über indianische Heilkunde, war Fliegerärztin der Luftwaffe und arbeitet freiberuflich in der Tölzer Buchbergklinik. Sie engagiert sich als Asylhelferin und gibt Deutschkurse für die derzeit 24 Flüchtlinge in der Jachenau. Und sie schreibt historische Romane, Bücher aus dem Orient oder der Mongolei. Dass sie das Thema Hexenprozesse, das sie schon seit Jahren beschäftige, in Angriff genommen habe, sei der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 geschuldet. "Weil ich gesehen habe, was man mit realitätsfernen Vorurteilen anrichten kann." Dass den Flüchtlingen "alles in den Arsch geschoben" werde, dass der Staat Handys und teure Sportklamotten finanziere - wenn solche Vorurteile schwelten, dann brauche es nur noch eine Institution, die das ausnütze. "Eine Partei wie die AfD", sagt Gudelius. Oder wie die katholische Kirche im ausgehenden Mittelalter. Vor allem die Jesuiten hätten schlimm gehetzt. Lustvolle Beschreibungen sexueller Handlungen mit dem Teufel könne man in deren Protokollen nachlesen, von Frauen, die "auf dem Stock reiten" und Männern die Potenz rauben. Die angeklagten "Hexen" waren meist alte Frauen. "60, 70-Jährige, die unter der Folter Dinge und Praktiken gestanden, von denen sie vermutlich noch nie gehört hatten", sagt Gudelius. Wie bei allen ihren Romanen hat sie gründlich recherchiert: Dutzende Bücher gewälzt, mit Archivaren, Historikern und Heimatforschern gesprochen und sich bei dem "bayerischen Pferdeflüsterer" Bruno Six schlau gemacht. Und natürlich ist sie die historische Brennerroute zu Fuß abgelaufen. Der Heuschober bei Scharnitz zum Beispiel, in dem sich Toni versteckt, den gibt es tatsächlich. Gudelius ist auf der alten Kienbergstraße bei Ettal gewandert, die wegen ihrer steilen Kehren bei den Fuhrleuten gefürchtet war. Und sie hat herausgefunden, dass die Schongauer "Hexen" alle in einem Radius von zehn Kilometern gelebt haben. "Die angeklagten Frauen hatten offensichtlich nur Bekannte in einem kleine Umkreis, die sie dann unter der Folter benannt haben." Mit dem Hexenwahn habe die Kirche, "ganz große Schuld" auf sich geladen, sagt Gudelius, die selbst "zwangskatholisch getauft", aber vor vielen Jahren ausgetreten sei. Mit dem Jachenauer Pfarrer Willi Milz verstehe sie sich trotzdem bestens. Der unterstützte die Flüchtlingshelfer und stelle das Pfarrheim für Deutschkurse zur Verfügung. "Der Pfarrer kauft alle meine Bücher", sagt Gudelius und lacht. "Und er hat von der Kanzel aus verkündet, dass christliche Barmherzigkeit keine Obergrenze kennt."

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