Süddeutsche Zeitung

Hilfsprojekt:"Zufriedenheit wird dort anders definiert"

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Als junger Mann reist Christoph Freundl nach Ecuador und beschließt, Straßenkindern eine Zukunft zu geben. Für sein Engagement wurde der Lenggrieser Pastoralreferent mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Von Irmgard Grasmüller, Lenggries

Christoph Freundl, Pastoralreferent von Lenggries, war 19 Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Ecuador reiste. Er leistete dort seinen "Anderen Dienst im Ausland" anstelle von Zivil- oder Wehrdienst. Freundl war damals für das Kolpingwerk im Einsatz und arbeitete bei einem Handwerksprojekt mit. Dass er in Zukunft für die Kirche arbeiten wolle, war ihm damals schon klar. In welcher Form allerdings noch nicht. "Ich habe damals in Ecuador eine andere Welt, eine andere Art zu leben kennengelernt", erzählt der 43-Jährige. Eine Welt ohne Handy und Internet. "In dieser Zeit war die Stadt Ambato ein einziger Markt. Alle Straßen waren von Verkäufern gesäumt, wo mittendrin die Kinder lebten. Sie lagen in Kartons, übernachteten unter den Marktdächern und verkauften selbst Obst und Gemüse oder putzten Schuhe", erzählt er.

Diesen Kindern wollte Freundl ein Obdach geben. Aus der Herbergsidee ist eine kleine Schule entstanden. "Die Schule hat mit einer Schülerin begonnen, und ohne Genehmigung." Freundl schluckt bei dem Gedanken, schwächt seine Reaktion aber zugleich mit einem kleinen Lächeln ab: "Manchmal ist jugendliche Unbedarftheit wichtig, sonst stehen zu viele Aber im Weg."

Aus einer Schülerin wurden schließlich 20, die von Lehramtsanwärtern kostenlos und individuell betreut wurden. Sie alle waren Straßenkinder im ursprünglichen Sinne. Zurück in Deutschland wurde ein Arbeitskreis (AK) Eine-Welt der Kolpingfamilie Irschenberg gegründet, der Spendenmittel von Paten, Partnerschulen, Pfarreien und Stiftungen akquirierte. Zunächst waren es einige Hundert Dollar, später 90 000 bis 100 000 Euro im Jahr. Davon wurde neben Unterrichtsmaterial auch eine einfache Schuluniform angeschafft. Sie bestand aus einer Jeans und einem bedruckten Pulli. "Eine Schuluniform ist dort einfach unablässig, nicht nur, weil sie von staatlicher Seite vorgegeben ist. Sie sorgt auch dafür, dass die Kinder sich nicht arm fühlen, dass sie eine gewisse Chancengleichheit verspüren."

Das wichtigste sei aber gewesen, "dass wir nicht nur Spendengelder erhalten haben, sondern auch ein wertvolles Netzwerk über viele Jahre und Grenzen hinweg aufbauen konnten", fasst Freundl zusammen. Mit seiner Idee war er damals zum Sozialamt der Stadt Ambato gegangen, das von der Frau des damaligen Bürgermeisters geleitet wurde. Sie unterstütze ihn in seinem Anliegen und ermöglichte, dass der Unterricht in städtischen Gebäuden, zunächst auch in der Markthalle, stattfinden konnte.

In Spitzenzeiten konnten etwa 80 Schüler in San Anian unterrichtet werden, wobei sie nicht nur klassischen Schulunterricht bis zum Abschluss - ähnlich dem Hauptschulabschluss - erhielten, sondern auch eine handwerkliche Ausbildung, Schulspeisung und eine persönliche, medizinische und zahnärztliche Betreuung. Da die Bevölkerung in Ecuador allgemein katholisch orientiert ist, waren auch Katechismus und die Abhaltung von Gottesdiensten Teil des Unterrichts dort. "Die Konfession war aber nie ein Kriterium für die Aufnahme von Schülern", sagt Freundl.

Es habe "tolle Erfolge" gegeben, erinnert sich der Pastoralreferent. Manche Schüler erlernten einen Handwerksberuf, einige studierten sogar. Zu manchen Schülern konnte er Kontakt halten, bis sie einen eigenen Beruf ausübten. Es habe allerdings auch Durststrecken gegeben. "So wie das Leben halt ist, es ist nicht immer ein gerader, einfacher Weg, auf dem der Einzelne geht."

Während es einige Schüler schafften, sich von dem Milieu der Straßenkinder zu lösen, kehrten andere immer wieder auf die Straße zurück, auch, weil sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen mussten. Wiederum andere fanden im zweiten oder dritten Anlauf doch noch den Einstieg in das Schulleben und den Zugang zum Handwerk und Berufsleben.

Das Projekt war erfolgreich, wurde insgesamt sehr gut angenommen, musste aber dennoch 2015 eingestellt werden. Die politische Situation hätte sich geändert, die Auflagen seien derart hoch gewesen, dass es für eine ausländische Stiftung unmöglich wurde, weiterhin eine Schule zu betreiben, berichtet Freundl. Stattdessen sei die Bildung zur alleinigen Staatsaufgabe erklärt worden. Die Schule der Stiftung Sankt Anian wurde geschlossen. Bis heute ist der Abschied für viele nicht leicht. "In Deutschland engagierten sich zuletzt mehr als 350 Einzelpersonen, Pfarreien und Schulen für dieses Projekt", so Freundl. Er sei dankbar für die Zeit und freue sich über alles, was er mit den Helfern und Projektpartnern habe erreichen können. "Es war ein langes Ringen, ob es einen anderen Weg weiter gibt." Doch den gab es nicht. So war es umso wichtiger, den Abschied bewusst zu gestalten: "Wir organisierten Danksagungen, Abschlussveranstaltungen und machten eine letzte gemeinsame Reise."

In Ecuador versuchen nun einige Lehrkräfte, die sich stark mit der Schule und der Idee identifiziert hatten, das Projekt San Anian in einer anderen Form, als Förderzentrum für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, fortzuführen. Sie sind in Ecuador auf sich allein gestellt, Freundl hat keinen Kontakt.

Über die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz für die ehrenamtliche Arbeit mit den Straßenkindern freut sich der Pastoralreferent sehr. "Die Auszeichnung gilt allen, die bei diesem wertvollen Projekt mitgearbeitet haben."

Im Endeffekt habe auch er einiges von den Leuten und der Projektarbeit lernen und für sein Leben mitnehmen können: "Die Menschen dort definieren Zufriedenheit und Armut anders. Es hat mir einmal mehr gezeigt, dass Zufriedenheit nicht von materiellem Besitz abhängt, sondern von einer dankbaren Einstellung zum Leben."

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Quelle:
SZ vom 12.06.2017
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