Süddeutsche Zeitung

Kaum bekannte Erkrankung:Aus dem Takt

Hedwig Schütze hat zwei Nichten an die vererbbaren Herzerkrankung ARVC verloren. Die Königsdorferin und zwei ihrer Kinder sind selbst gefährdet. Um aufzuklären, engagiert sie sich in einer Selbsthilfegruppe.

Von Benjamin Engel

In ihrer Jugend hat Hedwig Schütze viel Sport getrieben, ist geschwommen und hat Leichtathletik gemacht. Womöglich liegt es daran, dass die heute 66-jährige Königsdorferin im Jahr 2012 zunächst einmal vollkommen geschockt reagiert, als sie von ihrer Diagnose erfährt. Denn körperliche Beschwerden hat sie bis dahin nie gehabt. "Ich habe mich von einer Minute auf die andere bedrohlich krank gefühlt", sagt die Gymnasiallehrerin. In Untersuchungen stellen die Ärzte fest, dass Hedwig Schütze an arrhythmogener rechtsventrikulärer Kardiomyopathie (ARVC) leidet. Die seltene, aber vererbbare Herzmuskelerkrankung löst häufig Herzrhythmusstörungen aus, bei starker Anstrengung kann sie schnell lebensbedrohlich werden - und sogar zum Tod führen.

Das hat die eigene Familie leidvoll erfahren müssen. Im Jahr 2011 bricht Schützes Nichte nach einem Fußballspiel im Urlaub tot zusammen. Die Tochter ihres Bruders ist erst 14 Jahre alt. Eineinhalb Jahre später stirbt eine weitere Nichte, die Tochter eines anderen Bruders, mit 23 Jahren. Die junge Frau war früher schon einmal beim Schwimmen ohnmächtig geworden, erholte sich wieder, doch dann verkraftete das schwache Herz die Belastungen des Alltags nicht mehr. An einen Zufall glaubt Schwägerin Ruth Biller - selbst Medizinerin - nach beiden Unglücksfällen in so kurzer Zeit nie. Sie wird aktiv, um die Hintergründe aufzuklären. DNA-Untersuchungen ergeben schließlich, dass ein Gendefekt schuld ist, der ARVC auslöst und das Herz schädigt.

Daraufhin lassen sich auch Hedwig Schütze und ihre Familie untersuchen. Sie selbst und zwei ihrer vier Kinder tragen die ARVC auslösende Genmutation ebenso in sich wie viele im Verwandtenkreis. Schütze und ihr Mann beginnen daher, sich in einer Selbsthilfegruppe zu engagieren. Deren Vorsitzende ist ihre Schwägerin Ruth Biller, die Mutter der ersten verstorbenen Nichte. Gemeinsam wollen sie über die seltene, erst seit wenigen Jahrzehnten bekannte Erkrankung aufklären, das öffentliche Bewusstsein schärfen und Betroffene wie Ärzte untereinander vernetzen. Noch forschten gerade in Deutschland viel zu wenige Spezialisten zu ARVC, sagt Schütze. Meistens zeigten sich Symptome erst im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter. Es könne aber auch sein, dass die Krankheit trotz Genmutation lebenslang nie ausbreche. Wer darunter leide, wisse oft gar nichts davon.

Das will die laut Schütze einzige Selbsthilfegruppe für ARVC in Deutschland ändern. Die Vorstandsmitglieder haben mit dem Bayerischen Rundfunk für ein Symposium zusammengearbeitet, auf dem Experten Fachvorträge gehalten haben. Auch anlässlich des Welttags der seltenen Erkrankungen am 28. Februar soll eine Aktion stattfinden. Weil die Corona-Pandemie persönliche Begegnungen derzeit unmöglich macht, ist tags zuvor, am Samstag, ein Online-ARVC-Tag geplant. Außerdem plant die Gruppe Frage-und-Antwort-Runden über Videoplattformen. Ein wissenschaftlicher, mit zwölf Medizinern besetzter Beirat unterstützt den Verein. Im Herbst konnten so erstmals Promotionsstipendien an vier Doktoranden aus Deutschland vergeben werden.

"Mein Part ist, die Betroffenen untereinander zu vernetzen", erklärt Schütze ihre Aufgabe im Verein. Vor allem im oberbayerischen Raum sei sie die Hauptansprechpartnerin. Telefonisch sei sie jederzeit erreichbar. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen sei es besonders wichtig, sich persönlich auszutauschen. Ein erstes Begegnungstreffen mit vierzig Teilnehmern hat die Selbsthilfegruppe daher an einem Wochenende im Chiemgau vor zwei Jahren organisiert. Wegen der Pandemie habe dieses im Vorjahr ausfallen müssen, sagt Schütze. Für den kommenden Herbst sei aber wieder ein persönliches Begegnungstreffen geplant. Abseits dessen habe Corona dem Verein aber einen regelrechten Schub gegeben, digitale Medien zu nutzen. Bei ARVC kommen zu den körperlichen Beschwerden oft noch die psychischen Auswirkungen dazu - ein bei Herzerkrankungen nicht zu vernachlässigender Faktor. "Viele fallen in eine Depression", sagt Schütze. Daher vermittelt der Verein Betroffene auch an Psychologen und Psychiater.

Wie viele seltene Erkrankungen steht die ARVC für Schütze noch viel zu wenig im Fokus der Gesundheitspolitik. "Die finanzielle Unterstützung ist ganz wichtig", sagt sie. Der Verein setzt sich beispielsweise dafür ein, dass die Krankenkassen die Kosten für eine Obduktion oder einen Gentest tragen, wenn jemand unter 50 Jahren plötzlich an einer Herzerkrankung stirbt. "Dafür müssen die Angehörigen bisher selbst das Geld in die Hand nehmen." Nur durch die Untersuchungen lasse sich aber klären, ob eine genetische Herzerkrankung vorliege und damit womöglich weitere Familienangehörige betroffen seien.

Gerade im Gegensatz zu angelsächsischen und anderen europäischen Ländern besteht für Schütze in Deutschland noch Aufholbedarf, um die ARVC besser zu erforschen. Die Selbsthilfe-Vereinsvorsitzende Biller habe daher intensive Kontakte geknüpft. Sie sei Vorsitzende einer Patientenvertretung für seltene Herzerkrankungen im europäischen Referenznetzwerk ERN Guard Heart. International sei beispielsweise der Aufbau einer Bio-Bank wünschenswert, sagt Schütze. So könnten Daten ausgetauscht werden, vergleichbar mit der Stammzellspenderdatei für Knochenmark.

Viele Mechanismen der ARVC sind bislang noch nicht wissenschaftlich erforscht. Derzeit können Mediziner nur Symptome mit Medikamenten lindern, die Erkrankung aber nicht heilen. Betroffenen bleibt nur, beispielsweise Betablocker einzunehmen, um das Herz vor zu hohen Frequenzen zu schützen. Bei schweren Verläufen können sich Betroffene auch einen Defibrillator implantieren lassen. Das Gerät kann vor einem plötzlichen Herztod schützen.

Inzwischen haben Hedwig Schütze und einer ihrer Söhne sich auch einen Defibrillator implantieren lassen. Die Familie hat gelernt, mit der seltenen Herzerkrankung umzugehen. Was sie anfangs als Schock empfunden hätten, habe die Familie inzwischen eher gestärkt. "Wir überlegen bewusster, was uns wichtig ist", sagt Schütze. Sie selbst sei dankbar für jeden Tag, der ganz normal verlaufe. Sie lebe sehr bewusst, achte auf ihre Ernährung, gehe aber auch noch viel wandern. Die Sorge um ihre Kinder, räumt sie ein, verschwinde bei ihr als Mutter aber nie.

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SZ vom 27.02.2021/sz.de
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