Lucía nörgelt nur wenig, als sie gewogen werden soll. Stephanie Lorenz legt das neugeborene Mädchen behutsam auf das Baumwolltuch, hebt es in die Höhe und lässt die Hängewaage arbeiten. „Schon groß geworden“, sagt die Hebamme und trägt 4100 Gramm in ihre Tabelle ein. „Wow“, sagt Natalia De la Fuente mit zärtlichem, müdem Lächeln. Nach einer kurzen Untersuchung wird Lucía wieder angezogen, kehrt zurück in die Bauchtrage. Stephanie Lorenz unterhält sich unterdessen mit der Mutter, fragt, klärt auf: Arbeitsalltag der Wolfratshauser Hebamme, die, wie die meisten Hebammen, selbstständig arbeitet, ihren Beruf liebt und dennoch nicht verschweigt, mit welchen Problemen sie und ihre Kolleginnen zu kämpfen haben.
Wie es laufe mit dem Milchgeben, fragt Lorenz. Und wie sie schlafen, die beiden, schließlich sei das Kind leicht erkältet. „Wenn du sie auf die Seite nimmst, dann kannst du auch ein bisschen dösen. Man hat Angst, dass man sich auf das Kind legt“, sagt die Hebamme. „Das ist meine große Sorge!“, sagt De la Fuente. „Du brauchst keine Angst haben, du wirst nicht so fest schlafen, dass du das nicht merkst“, entgegnet Lorenz, den Kugelschreiber immer in der Hand.
45 Minuten wird der Besuch bei der Dietramszeller Familie dauern. 45 Minuten, zu denen noch einmal mindestens eine halbe Stunde an bürokratischem Aufwand kommt, weil die schriftliche Dokumentation Zeit frisst. Hat Lorenz dann alles korrekt ausgefüllt, kann sie 20 Minuten Arbeitszeit über die Krankenkasse abrechnen. Das entspricht 38,46 Euro. „Jeder Handwerker würde da lachen“, sagt die Hebamme. Sie hat selbst zwei Kinder. „Denen sage ich auch: Es ist ein toller Beruf und wenn ihr ihn machen wollt, macht ihn. Aber das große Geld werdet ihr so nicht verdienen.“

Lorenz, die 2023 ihr Examen abgeschlossen hat und seit vergangenem September als Hebamme praktiziert, war sich dessen bewusst. Die gebürtige Wolfratshauserin hat auch als Rettungsassistentin gearbeitet und Einblicke in den Arztberuf erhalten. Denn als die Katholische Stiftungshochschule München ihr mitteilte, dass sie einen der begehrten Plätze für das frisch eingeführte Studium der Hebammenkunde erhalten habe, war Lorenz noch im Medizinstudium immatrikuliert. Mit der Zusage habe sie dennoch nicht gezögert. „Das war der Job, den ich immer machen wollte“, sagt sie. „Es hat mich immer interessiert. Es ist ja das einzige Berufsfeld, wo man eigentlich immer zwei Patienten gleichzeitig hat.“ Damit habe sie auch das finanzielle Risiko in Kauf genommen, dass der Beruf mit sich bringt.
Um Berufsanfängerinnen wie Stephanie Lorenz zu unterstützen, zahlt das bayerische Gesundheitsministerium eine sogenannte Niederlassungsprämie. Es handelt sich dabei um eine einmalige Finanzspritze von maximal 5000 Euro, die den Hebammen beim Einstieg in den Beruf helfen soll. Schließlich bleibt es den freiberuflich arbeitenden Hebammen selbst überlassen, sich mit dem Notwendigen auszustatten. Professionelles medizinisches Gerät wie Tuchwaage oder Stethoskop sind teuer. Eine Kollegin musste sich für die Arbeit ein Auto anschaffen, erzählt Stephanie Lorenz. Die Prämie habe ihr geholfen, doch Lorenz wünscht sich mehr als nur finanzielle Unterstützung, um sich umfassend um die Mütter kümmern zu können.
„Du bist nicht nur Mama, du bist auch du“
Die Hebamme sieht, dass Natalia De la Fuente Besuch ihrer Familie aus Chile hat. „Hier ist es manchmal so warm, so laut, dann will ich einfach raus“, sagt Lucías Mutter. „Ja, einfach mal rausgehen, 15 Minuten, Zeit für dich suchen“, rät Lorenz. „Aber ich will mich nicht von ihr trennen“, sagt De la Fuente. Die Hebamme sagt so verständnisvoll wie deutlich: „Du musst auch verstehen: Du bist nicht nur Mama, du bist auch du.“
„Man baut eine tiefe Verbindung auf zu den Frauen“, wird Lorenz später sagen. „Von kleinen Fragen bis zu großen Problemen wird alles besprochen.“ Dabei sei es für die jungen Mütter im Landkreis nicht immer einfach, sofort die nötige Betreuung zu bekommen. 36 Hebammen sind laut Landratsamt im Kreis gemeldet, davon praktizieren jedoch nicht alle in Vollzeit oder sie sind hauptsächlich in einem anderen Landkreis aktiv. „Der Kreis ist nicht schlecht aufgestellt, aber manchmal ist es nicht ganz einfach, eine Hebamme zu finden“, sagt Lorenz. So zahlen die Krankenkassen den Hebammen zwar ein Wegegeld von ihrer Praxis oder ihrem Wohnsitz zu der Klientin im Wochenbett, doch nur in einem Umkreis von maximal 25 Kilometern. Im Flächenlandkreis Bad Tölz-Wolfratshausen sind längere Fahrstrecken durchaus denkbar. „Alles über 25 Kilometer müsste ich privat in Rechnung stellen und das will ich nicht“, sagt Lorenz. Froh zeigt sie sich deshalb über die gute Zusammenarbeit mit den anderen Hebammen. Man spricht sich in einer gemeinsamen Chatgruppe ab, teilt sich die Arbeit, hilft sich in Krankheitsfällen.
„Dramatisch ist die Situation im Kreis nicht, aber ich bin voll ausgelastet im Moment“, sagt Nadia Harrer, die am anderen Ende des Landkreises, in Lenggries, ihren Sitz hat. Auch sie findet, dass die Situation der Hebammen besser sein könnte. So zahlen zwar Freistaat und Landkreis an alle Hebammen je nach Anzahl der betreuten Mütter einen Hebammenbonus von knapp 1000 oder 2000 Euro aus – 2024 erhielten so 14 Hebammen im Landkreis in Gesamtsumme mehr als 26 000 Euro. „Aber es ist keine Summe, die einen im Beruf hält, wenn man schon zweifelt, oder sogar dafür gewinnt“, sagt Harrer. „Nice to have.“ Aber eben auch nicht mehr.
Auf die Frage, ob die Politik genug für die Hebammen tue, antwortet Harrers Kollegin Lorenz ohne Zögern. „Nein. Jeder Politiker, mit dem ich gesprochen habe, sagt immer ‚Ach, Sie sind Hebamme! Das ist ja so wichtig!‘ Die Wertschätzung ist in Worten da, aber nicht so sehr in Taten.“ Harrer dagegen gibt zu bedenken: „Es ist ja auch nicht direkt die Aufgabe des Staates, uns zu helfen, sondern der Krankenkassen. Und da kämpfen wir ständig.“
Der Anteil der Hebammen in der Geburtshilfe sinkt
Nach jahrelangem Kampf konnte so 2015 beim Spitzenverband Bund der Krankenkassen eine Entlastung für Hebammen erstritten werden, die Geburten leiten. Trotzdem betreut Stephanie Lorenz Natalia De la Fuente und ihr Kind, ohne bei dessen Geburt assistiert zu haben. Geburtshilfe bietet die Wolfratshauser Hebamme nicht an. Eine große Rolle dabei spielt dabei die nach wie vor hohe Summe, die sie sonst für die Haftpflichtversicherung aufbringen müsste. Jährlich beläuft sie sich auf 12 659 Euro. Von der Summe erstattet der GKV-Spitzenverband den Hebammen knapp 10 000 Euro.
„Ich verstehe nicht, warum das in der Debatte nicht angekommen ist“, sagt Johanna Vogt. Die erfahrene Hebamme aus Ebenhausen-Schäftlarn hätte nicht missen wollen, den Müttern bei Geburten zu helfen. „Es ist ein Privileg, bei einer Geburt dabei sein zu dürfen“, sagt sie. Doch der Anteil an Hebammen, die Geburtshilfe leisten, nimmt seit Jahren ab. Auch Hannelore Kasperbauer versteht, warum ihre ehemalige Schülerin Stephanie Lorenz, wie viele andere Hebammen, darauf verzichtet. „Was der Spitzenverband nicht erstattet, muss ja erst einmal erwirtschaftet werden“, sagt Kasperbauer.

Die Hebamme hat seit 1999 ihre Praxis in Wolfratshausen, stammt aber aus dem Allgäu und kann deshalb die Situationen in zwei unterschiedlichen Regionen vergleichen. „Wir sind ganz gut aufgestellt im Speckgürtel um München“, sagt Kasperbauer. Im weniger dicht besiedelten Allgäu sei es schwieriger, die richtige Betreuung zu finden. Wobei auch sie zugibt, dass es in der Wochenbett-Betreuung zeitweise Engpässe gebe. „In der Urlaubszeit vor allem. Aber was machst du, wenn dich im August eine Frau anruft und weint? Ich bin sehr schlecht darin, Nein zu sagen.“ Dazu komme die relativ hohe Geburtenziffer im Kreis. Eine Eins-zu-eins-Betreuung wie in der Schweiz sei da illusorisch. „Die Spitze waren 16 Geburten in acht Stunden mit zwei Hebammen.“
Kasperbauer wünscht sich deshalb, dass sich vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung des Berufs etwas ändert. „Es müsste mehr Bewusstsein geschaffen werden in der Gesellschaft.“ Der Studentin Lilli Giesen, die aktuell ihr Externat in Wolfratshausen macht, möchte sie das mitgeben: „Man muss die eigenen Ressourcen schonen. Auch wenn das schwer ist. Wir wollen immer helfen, müssen aber auch auf uns achten.“ Stephanie Lorenz bestätigt das: „Manchmal kommt halt eine Nachricht auch mitten in der Nacht. Da hilft nur, klare Grenzen zu ziehen und zu sagen ‚Ab der Uhrzeit bitte zum Kinderarzt‘. Aber man reagiert dann trotzdem.“
Lucía ist schon längst wieder in der Tragetasche am mütterlichen Bauch und schnurrt wie ein Katzenkind. „Aber am Wochenende hast du kein Problem zu kommen?“, fragt ihre Mutter. „Nein, das ist kein Problem“, sagt Stephanie Lorenz. Rasch verabschiedet sie sich von Mutter und Kind, der nächste Hausbesuch steht an. Bald wird sie ohnehin wieder da sein.