Es war eine brutale Aktion, mit der Heimatvertriebene im einstigen Lager Föhrenwald ihren verbliebenen jüdischen Nachbarn klar machten, wer nun der Herr in der neuen Siedlung war. Sie sägten den Davidstern ab, der am heutigen Kolpingplatz als "eine Art hölzerner Maibaum" aufgestellt war. Daran erinnert sich Herbert Brustmann, der 1956 mit seiner Familie als einer der ersten Heimatvertriebenen nach Waldram kam. "Der Judenstern galt als Schandfleck in der jungen katholischen Siedlung", sagt er. Frühmorgens um fünf Uhr hätten sich etliche Männer zu der "Nacht- und Nebelaktion" verabredet. Sie blieb von der jüdischen Bevölkerung nicht unbemerkt. Die Leute seien aus den Häusern gestürzt, um "mit Messern" die Verfolgung aufzunehmen. Brustmann war damals noch ein Kind, aber er schämt sich für die Übeltäter. "Man hätte ja noch ein paar Monate warten können, bis die letzten Juden weg waren."
"Von der Baracke zum Eigenheim" hieß eine von der Historikerin Sibylle Krafft moderierte Veranstaltung im Waldramer Erinnerungsort Badehaus, die am vergangenen Sonntag online ging. Die Brüder Herbert und Alois Brustmann waren einerseits als Musiker der Waldramer Tanzlmus i mit von der Partie, andererseits als Zeitzeugen. "Ein Isargelände mit viel Kies und - bis auf ein paar Föhren - kaum Vegetation", das war der erste Eindruck, den die aus Südmähren stammende Familie Brustmann von der neuen Heimat gewann. Das Besondere an ihr war, dass jüdische Holocaust-Überlebende und christliche Vertriebene noch bis Februar 1957 zusammen lebten. Aber man blieb sich fremd. "Es war, wie wenn eine unsichtbare Wand durch den Ort ging", sagt Alois Brustmann. "Rübergegangen ist man nicht." Auch die Eltern hätten den Kindern nichts erzählt. "Ich hatte keine Ahnung, was Juden sind, und wusste nichts von ihrem Schicksal."
Man hätte gern noch mehr von den Geschwistern Brustmann erfahren, aber dazu blieb in dem rund 40-minütigen Programm keine Zeit mehr. Dafür erzählte Andreas Otto Weber kundig von der Geschichte der Vertriebenen in Bayern und den Aufbaujahren des Wolfratshauser Stadtteils, der erst Zwangsarbeitersiedlung für die Rüstungsarbeiter, nach Kriegsende ein Auffanglager für jüdische "Displaced Persons" und schließlich eine neue Bleibe für katholische kinderreiche Familien war.
"Es ist ein für Bayern einzigartiges historisches Relikt, wo sich drei Phasen Siedlungsgeschichte spiegeln", erklärte der Direktor des Hauses des Deutschen Ostens. Die 12,5 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten stellten die Siegermächte vor ein riesiges Problem. Es gab Überlegungen, die laut Quote auf Bayern entfallenden zwei Millionen Menschen in einen eigenen Landesteil anzusiedeln. Dieser hätte für die überwiegend aus Sudetendeutschland und Schlesien stammenden Neubürger geräumt werden sollen. Letztlich erfolgte die Verteilung aber doch querbeet.
Geretsried hatte eine Sonderrolle. "Es war eine der wenigen konzentrierten Flüchtlingssiedlungen, was im Widerspruch zu den Plänen der Alliierten stand, die eine Assimilierung in der bestehenden Bevölkerung anstrebten", erklärte Weber. 1955 kaufte das Katholische Siedlungswerk das benachbarte Lager Föhrenwald und benannte es in Waldram um. Wer von der jüdischen Bevölkerung noch dort wohnte, musste gehen. "Auch wenn er nicht wollte", unterstrich Weber.
Im Februar 1956 wurde mit dem Umbau der 256 Wohnungen als Eigenheime begonnen. Die neuen Eigentümer konnten sich diese mit Hilfe des Lastenausgleichsgesetzes leisten, einer finanziellen Entschädigung. Bei der Errichtung half ein internationaler Bau-Orden der Kirche mit, eine freiwillige Helfertruppe von Studenten aus Belgien, Deutschland und den Niederlanden. Noch im gleichen Jahr konnten die ersten Häuser mit einer genormten Wohnfläche von 100 Quadratmetern und Bad, Zentralheizung und Garten bezogen werden. Im Jahr 1960 wohnten schon mehr als 1500 Frauen, Männer und Kinder in Waldram.