Auch Erna Schuppan hat noch Sehnsucht nach den Mohnbuchteln, mit denen ihre Mutter die Familie satt und glücklich gemacht hat. Darum spannte sie selbst einmal die blaue Mohnmühle auf die Arbeitsfläche, gab die schwarzen Körnchen hinein und war überrascht, als mit einem Knall die Mühle zu Boden fiel und der Inhalt sich dunkel in der Küche verbreitete. „Das war das letzte Mal, dass ich’s probiert hab“, sagt Erna Schuppan. Die Mohnmühle hat sie trotzdem noch. Sie ist eines der wenigen Objekte, die die Familie nach der Vertreibung aus Mähren retten konnte. Nun ist das Gerät in der Ausstellung „Ungehört – Die Geschichte der Frauen. Flucht, Vertreibung und Integration“ zu sehen. Die Wanderausstellung des Haus des Deutschen Ostens (HDO) macht im Erinnerungsort Badehaus Waldram Station und wurde dafür um wertvolle Beiträge erweitert.
Dass die Vernissage der Ausstellung am Internationalen Frauentag stattfindet, ist kein Zufall. Die Mehrheit der knapp zwei Millionen Heimatvertriebenen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach Bayern kamen, war weiblich. Viele Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung aus den historischen Regionen mit deutschsprachiger Bevölkerung im Osten Europas aus der Sichtweise der Frauen zu erzählen, ist deshalb so einleuchtend wie nötig. Und eigentlich auch naheliegend. Dennoch blieben die Erfahrungen der Mütter und Großmütter, die sich auf den Weg in den Westen machten, häufig unerzählt. Die Präsentation auf den großen Bannern, die sich nun im Untergeschoss des Waldramer Badehauses befinden, hält diese Erfahrungen fest.
„Ich habe keine Heimat. Ich bin für Europa“, sagt Friederike Niesner, die aus Brünn stammt.
In thematischen Stationen wird über die Hintergründe des Themas informiert: über die Bedingungen der Flucht, über die Lebensmittelknappheit, über die Bedrohung durch sexualisierte Gewalt. Andere Schwerpunkte sind die schwierige Integration der oftmals als „Flichtling“ verschrienen Heimatvertriebenen. Die Parallele zu aktuellen Migrationsdebatten zieht Patricia Erkenberg vom HDO in ihrer Präsentation zur Ausstellung. Beleuchtet werden aber auch die positiven Besonderheiten der heimatvertriebenen Frauen. So waren sie – zunächst aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, aber auch wegen der hohen Bildungsmotivation der Familien – häufiger berufstätig als andere Frauen in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist die Biografie von Friederike Niesner aus Brünn, die in Deutschland als Stewardess arbeitete. Wie bei allen Heimatvertriebenen spielt auch bei Niesner die Frage nach der Verbundenheit zu einem Land oder einer Region eine Rolle. Ihre bemerkenswerte Antwort: „Ich habe keine Heimat. Ich bin für Europa.“
Starke Frauen werden so zu den Protagonistinnen eines oft vernachlässigten Teils deutscher Geschichte. Auch das politische Engagement etwa der aus dem heutigen Serbien stammenden Annemarie Ackermann oder der Oberschlesierin Renate Hellwig werden gewürdigt. Das ist alles informativ und relevant, doch wirklich sehenswert wird „Ungehört“ durch die Beiträge, die das Team des Badehauses selbst einbringt. Sieben Zeitzeuginnen aus Waldram und Geretsried, eine der fünf Vertriebenengemeinden Bayerns, werden hier auf eigens hergestellten Bannern porträtiert. Vor allem aber kommen sie selbst zu Wort, in einem Video, das in einigen kürzeren Kapiteln die Zeitzeuginnen erzählen lässt, wie sie die Vertreibung und den Neuanfang in Bayern wahrgenommen haben.

„Für mich war das ja interessant am Anfang. Aber fragen Sie nicht nach drei Tagen, ich hab' nur noch geheult“, erinnert sich Anna Hahn, die aus dem ungarischen Pusztavám fliehen musste. Wie bei allen Vertriebenen musste das Gepäck leicht sein, Wertsachen wurden konfisziert. Doch das Schusterwerkzeug, mit dem die Familie schließlich in Geretsried ankommt, wird zur Basis eines Geschäfts am Karl-Lederer-Platz. Zu dem wenigen, das gerettet werden konnte, gehört auch der Teddybär der Egerländerin Anna Schmidt. „Das war gefährlich, weil der hat gebrummt“, sagt sie im Film. Und, wie sie in der Gesprächsrunde der Zeitzeuginnen bei der Ausstellungseröffnung demonstriert: Er brummt immer noch.
Die Widrigkeiten waren mit der Ankunft in Bayern nicht gleich zu Ende
In den Erzählungen der Zeitzeuginnen mischt sich Anrührendes mit Tragischem. Immer wieder ist von der Angst vor der Roten Armee die Rede. Als russische Soldaten im Haus der Familie von Erna Schuppan in Kodau (heute Kadov) standen, kniete ihre Großmutter vor ihnen und bat, die Familie zu verschonen. „Sie sind dann gegangen“, sagt Schuppan. Die Familie zog schließlich nach Bayern. Doch die Widrigkeiten fanden mit der Ankunft in Bayern nicht sofort ihr Ende. Anna Schmidt erinnert sich an die Zwangseinquartierung bei einer bayerischen Familie. Das Zimmer, in dem die Vertriebenen untergebracht werden sollten, konnte nur über die Wohnung der Hausherren betreten werden. Diese versperrten kurzerhand den Zugang. Schmidts Familie musste von da an durchs Fenster klettern, um in ihr Zimmer zu gelangen.
Viel Zustimmung, gelegentliches Lachen und vereinzelte Tränen sind beim Publikum der Ausstellungseröffnung auszumachen – die Themen Flucht und Vertreibung wirken bis heute nach. Die Ausstellung eröffnet persönliche, aber repräsentative Perspektiven auf dieses Kapitel deutscher und europäischer Geschichte und bereichert damit auch aktuelle Debatten. Bis zum 7. September ist sie im Badehaus zu sehen.
Ungehört – Die Geschichte der Frauen, 8.3.2025 – 7.9.2025, Erinnerungsort Badehaus Waldram, Öffnungszeiten: Fr., 9–17 Uhr, Sa./So. 13–17 Uhr, www.erinnerungsort-badehaus.de