Geretsrieder Kulturherbst:Turbo-Epos

7. Geretsrieder Kulturherbst 2018

Die Darsteller werden im Erzählstück "Lehman Brothers" vielen Rollen gerecht: Nikola Norgauer, Paul Kaiser, Konstantin Gerlach und Wolfgang Mondon (v.l.).

(Foto: Hartmut Pöstges)

Das "a.gon-Theater" bringt das Erzählstück "Lehman Brothers" auf die Bühne des Festzelts. Das eigentliche Drama muss sich im Kopf des Zuschauers entwickeln.

Von Felicitas Amler

Am Ende gibt es nur noch die Geister der Gründerväter - ihr Geist aber hat sich längst überlebt. Und das nicht erst, seit Immobilien-Spekulationen und Finanzblase das Unternehmen in die Insolvenz gestürzt haben: Die Lehman Brothers hatten sich schon auf dem Weg dahin von den Traditionen des ehrbaren Kaufmanns so weit entfernt wie von den guten alten jüdischen Ritualen. Das Theaterstück "Lehman Brothers" bringt in einem zweieinhalbstündigen Mammutepos die ganze Familien- und Firmengeschichte der Lehmans von den 1840-er Jahren bis in das 20. Jahrhundert auf die Bühne. Das eigentliche Drama aber thematisiert es nicht: Das Platzen der Spekulationsblase mit weltweit fatalen Folgen spielt sich allenfalls in der Fantasie der Zuschauer ab. So auch bei der Aufführung am Donnerstagabend beim Geretsrieder Kulturherbst. Die Inszenierung des a.gon-Theaters hat das Festzelt am Eisstadion nicht gefüllt. Die gut hundert Anwesenden aber sind angetan, langer starker Beifall bekundet es.

Wie aus dem American Dream - vom fränkischen Viehhändlerssohn zum Milliardär - ein globaler Alptraum wird, lässt sich in dem Erzählstück des italienischen Autors Stefano Massini Schritt für Schritt, aber doch nicht ganz bis zum Ende nachvollziehen. Die Brüder Hayum (Henry), Mendel (Emmanuel) und Maier (Mayer) Lehmann beginnen ihr Glück in Montgomery, Alabama, mit einem Gemischtwarenladen. Bald handeln sie auch mit Baumwolle, Tuch, Kaffee, Eisen ("Man kann alles verkaufen"), steigen ins Bankgeschäft ein, siedeln nach New York um, profitieren von Krisen und Kriegen, mischen in der Politik mit und kontrollieren die Börse, wo es nicht mehr um reale Produkte, sondern um imaginäre Werte geht: "Es gibt kein Eisen, aber das Wort Eisen. Es gibt keine Kohle, aber das Wort Kohle ..." Turbokapitalismus aus dem Bilderbuch.

Solide Theaterkunst

Das a.gon-Theater setzt all dies mit sparsamen Mitteln professionell und solide in Szene: Holzkisten, die als Möbel jeder Art dienen, eine Kleiderstange mit Westen und Anzügen als Symbol der Textilwirtschaft, eine Leinwand, auf der Projektionen wechselnde unternehmerische und geschichtliche Hintergründe vors Auge bringen: Eine Freiheitsstatuen-Spieluhr dreht sich in der Gründerphase. Flammen züngeln, als die Baumwoll-Plantagen brennen. Abraham Lincoln taucht auf, als der Sezessionskrieg beginnt. Broker schwirren umher, als es an die Börse geht.

Fünf Männer und eine Frau gestalten das Stück - was allerdings zu großen Teilen bedeutet: Sie erzählen es. Denn erzählt wird eigentlich permanent, zu spielen haben die Darsteller immer nur kleine Szenen. Sie tun dies überzeugend und durchaus mit Spielfreude, wechseln auch unentwegt Rollen und Kostüme, passen Gestik und Mimik an, sind mal vorsichtig und bedächtig, mal witzig und spritzig - ja, auch solche Szenen gibt es -, mal gewitzt und clever. Eine Dramaturgie aber entfaltet das Stück nicht, will es womöglich gar nicht. Auch neue Erkenntnisse werden nicht vermittelt. Lediglich um Faktenwissen über eine Unternehmer-Dynastie sind die Zuschauer reicher, wenn am Ende die Geister der Gründer auf den Ausgang des Dramas wartend auf der Bühne sitzen.

Worüber es nachzudenken gelte, hat Festivalleiter Günter Wagner den Zuschauern vor dem Stück nahegelegt: Die Lehman-Pleite habe allein den deutschen Steuerzahler 59 Milliarden Euro gekostet, 700 Milliarden Dollar seien nötig gewesen, um Banken zu retten. Und hinter all dem stehe die "fortdauernde Deregulierung der Finanzmärkte", wie auch die deutsche Politik sie betrieben habe. Er frage sich, so Wagner, wenn ein deutscher Politiker heute stöhne, es gebe nicht genug Geld für Schulen, für Kultur oder für Flüchtlinge: Habe ein solcher wohl alles vergessen oder einfach keine Ahnung?

Geretsrieder Kulturherbst: Festivalleiter Günter Wagner (hier mit Co-Festivalleiterin Ingrid Hammerschmied) erklärt den politischen Hintergrund des Stücks.

Festivalleiter Günter Wagner (hier mit Co-Festivalleiterin Ingrid Hammerschmied) erklärt den politischen Hintergrund des Stücks.

(Foto: Felicitas Amler)
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(Foto: Hartmut Pöstges)

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