Süddeutsche Zeitung

Porträt:Der Dekarbonisierer

Der Geltinger Stephen Harrison berät Firmen weltweit, wie sie langfristig Kohlenstoffdioxid-Ausstoß vermeiden können. Dabei setzt er auf Wasserstoff und darauf, das CO₂ aus den Abgasen abzuscheiden. Eine einzige Lösung für das Problem gebe es aber nicht, betont er.

Von Veronika Ellecosta

Stephen Harrison sitzt auf einer hölzernen Bank vor seinem Haus in Gelting unter einer schattenspendenden Markise. Sein Smartphone liegt vor ihm auf dem Tisch, ab und zu wirft er einen diskreten Blick auf seine Applewatch am linken Handgelenk. Harrison ist Berater in einer kleinen Nische: Mit seiner Firma sbh4 unterstützt er Unternehmen weltweit bei der Dekarbonisierung, also bei der Abkehr von Kohlenstoffdioxid. Die Schwerpunkte seines Beratergeschäfts hat er dabei auf die Abspaltung von CO₂ aus Abgasen gelegt, auf Wasserstoff und erneuerbare Elektrizität, daneben auch auf Industriegase. Weil seine Kunden weltweit in unterschiedlichen Zeitzonen arbeiten, ist der gebürtige Engländer rund um die Uhr via E-Mail abrufbar. Sein wichtigstes Arbeitsinstrument ist sein Handy.

Das hat Vorteile und Nachteile, gibt er zu. Einerseits die Flexibilität, andererseits stößt er manchmal bei seinen Kindern auf Unverständnis, wenn "der Papa mal die Tür zumacht und jetzt nicht spielen kann". Wenn man bedenkt, dass im Sektor der erneuerbaren Energien derzeit der Anteil der Beschäftigten stetig steigt, wird es für Stephen Harrison wohl auch in Zukunft viel zu tun geben.

Dass sich Unternehmen weltweit mittlerweile viel mehr mit ihrem CO₂-Ausstoß beschäftigen, hat Harrison zufolge viel mit den Änderungen zu tun, welche die Pandemie losgetreten hat. "2015 gab es das Pariser Klimaabkommen, aber die ersten Jahre hat sich nicht viel getan", sagt er. Corona habe schließlich die Augen für das Problem der Klimakrise geöffnet. Um die darniederliegende Wirtschaft anzukurbeln und die Erderwärmung aufzuhalten, haben europäische Regierungen viel in erneuerbare Energien investiert. Und etwas beschlossen, das für die Unternehmen wohl den größten Einfluss gehabt haben dürfte: Die CO₂-Emissionen kosten die Firmen Geld, weil sie immer teurer werdende Zertifikate dafür erwerben müssen - derzeit liegt der Preis bei etwa 52 Euro pro Tonne, Tendenz steigend. CO₂ zu sparen bedeutet für Unternehmen also auch, Ausgaben zu sparen. Und um effiziente und günstige Methoden für derartige Einsparungen zu finden, wenden sie sich an Berater wie Stephen Harrison.

Der Geltinger weiß, welche Methoden er welchen Unternehmen empfehlen kann. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, das CO₂, das ausgestoßen wird, abzuscheiden. Dass Kohlenstoffdioxid nämlich derzeit in industriellen Prozessen vollkommen vermieden werden kann, daran glaubt er nicht. "Man kann Unternehmen nicht einfach schließen, weil sie CO₂ ausstoßen", sagt er. "Wenn wir weiter Zement und Stahl herstellen wollen, müssen wir überlegen, wie wir das CO₂ vernünftig nutzen." Harrison nennt gleich ein Beispiel, um zu veranschaulichen, warum ein Industriegas wie etwa Sauerstoff die Industrie umweltfreundlicher machen kann. Werden nämlich in einem Industriegasbrenner Erdgas und reiner Sauerstoff anstelle von Luft zusammen verbrannt, kann das austretende CO₂ einfacher und günstiger gebunden, abgeschieden und anschließend weiterverwendet werden, in Bier und Soda etwa - oder es wird in riesigen Speichern gelagert.

Derartige Beispiele nennt Stephen Harrison oft, er spricht dabei mit weichem britischem Akzent und unterstreicht seine Worte mit fließenden Gesten. Sein Wissen zieht er aus seinen Erfahrungen im Industriegassektor. Harrison hat als Student des Chemie-Ingenieurwesens in London begonnen. Den Industriegasen ist es zu verdanken, dass er jetzt, etwa 25 Jahre später, in Gelting wohnt: Die Arbeit in Industriegasunternehmen führte ihn nach München, einem wichtigen Standort in diesem Bereich. Sowohl in Großbritannien als auch später in der bayerischen Landeshauptstadt hat Harrison in diversen Führungspositionen gearbeitet, die international aufgestellt sind, so dass es fast nur englischsprachige Bezeichnungen für sie gibt: als Global Director, als Global Head of Speciality Gases, als Business Change Manager. Seit etwa vier Jahren leitet er gemeinsam mit seiner Frau Gundula sein eigenes Unternehmen und wohnt in Gelting, im Grünen, wo die Familie der Kinder wegen hingezogen ist.

Dort ist Harrison nun rund um die Uhr erreichbar. Der Aufschwung bei der Energiewende stimmt ihn zuversichtlich, weil er großen politischen Willen bei den Mächtigen der Welt erkennt. "Wir diskutieren nur noch die Methoden und die Details, aber wir sind uns alle einig, dass es ein Problem gibt", sagt er. Dass die Dekarbonisierung ein langfristiges Ziel ist, hätten nicht nur Regierungen erkannt, sondern auch die Privatwirtschaft: Investmentgesellschaften und -banken etwa verlangten oft Dekarbonisierungspläne von Unternehmen, und Fachleute wie er würden immer gefragter.

Nach Harrisons Einschätzung ist sein eigenes Wirken nur ein kleiner Beitrag beim langfristigen Ziel der Dekarbonisierung, ein Puzzlestück im Kampf gegen die Klimakrise. "Ein einziges Allheilmittel gibt es nicht", sagt er. "Um unsere Probleme zu lösen, brauchen wir alle Werkzeuge im Werkzeugkasten." Sein wichtigster Begleiter, das Smartphone, wird ihm wohl auch in Zukunft treue Dienste erweisen.

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SZ vom 03.07.2021/aip
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