Der Insolvenzverwalter braucht Geld, sehr viel Geld: 250 000 Euro will Josef Hingerl über ein Crowdfunding auftreiben, um den Freistaat Bayern zu verklagen. Denn Hingerl glaubt, dass jenem Betrieb, dessen Insolvenz er seit drei Jahren abwickelt, schweres Unrecht geschehen sei. Der Rechtsanwalt aus Wolfratshausen fordert Schadenersatz für die frühere Geretsrieder Großmetzgerei Sieber, die 2016 wegen eines Listerien-Funds geschlossen wurde. Er spricht von einer "rechtswidrigen Schließung" und einer "fehlerhaften Warnung" vor Listerien im Betrieb. Zwölf Millionen will Hingerl einklagen - falls er die Viertelmillion, die er für Gerichtsgebühren und Anwaltskosten hinterlegen müsste, zusammenbekommt. Bis Ende dieses Jahres müsste er es schaffen, denn dann endet die dreijährige Verjährungsfrist.
Der fleischverarbeitende Betrieb Sieber war im Jahr 2016 näher untersucht worden, nachdem in einem Supermarkt in Franken erhöhte Listerien-Werte an einem geräucherten Wacholderwammerl aus Sieber-Produktion festgestellt worden waren. Listerien sind Bakterien, die bei Säuglingen, Alten, Kranken und Schwangeren schwere Erkrankungen auslösen können. Im Fall Sieber vermuteten die Behörden einen Zusammenhang zwischen einer Erkrankungswelle, die sogar Todesopfer gefordert hatte, und dem Betrieb. Darum warnte das Verbraucherschutzministerium vor den Sieber-Produkten. Schließlich wurden im Betrieb Proben genommen und Listerien an weiteren Produkten gefunden. Die Behörden ließen Hunderte Tonnen Fleisch, Wurst und vegetarische Aufschnitte zurückrufen. Sieber durfte keine Waren mehr ausliefern und meldete wenig später Insolvenz an. Der Geschäftsführer wurde im Jahr darauf vom Amtsgericht Wolfratshausen wegen Inverkehrbringens gesundheitsschädlicher Lebensmittel zu 900 Euro Geldstrafe verurteilt.
"Pilot-Prozess"
Insolvenzverwalter Hingerl findet, die gesamte Lebensmittelindustrie müsse Interesse an diesem Fall haben. Daher inseriert er für sein Crowdfunding in Fachmedien wie Lebensmittel- und Fleischer-Zeitschriften. "Gesucht: Prozessfinanzierung im Pilot-Prozess Sieber" lautet die Überschrift seiner ganzseitigen Anzeige. Darin erklärt er kurz den Hintergrund der Sieber-Schließung und wirbt um Unterstützung: Falls sich 250 Prozessfinanzierer mit je 1000 Euro beteiligten und der Prozess in erster Instanz erfolgreich wäre, so würden pro Person der jeweilige Einsatz und eine Erfolgsbeteiligung in Höhe von 25 Prozent auf zwölf Millionen Euro, also 12 000 Euro, ausbezahlt. Die Hälfte der nötigen Summe habe er beisammen, sagt Hingerl. "Es gibt Leute, die in der Branche tätig sind und ein Interesse haben, dass hier ein Zeichen gesetzt wird."
Hingerl hat sich in der Region als Insolvenzverwalter einen Namen gemacht. Er hatte diese Funktion bereits für die Tölzer Eissport-Gesellschaft inne, für die Huber Präzisionstechnik GmbH oder den Trachtenladen von Rita Braun. Seine Chancen mit der Schadenersatzklage schätzt er deswegen gut ein, weil er einen Teilerfolg bereits erzielt hat. Hingerl hatte mangels ausreichender Mittel 2018 eine Teilklage über 47 000 Euro Schadenersatz erhoben, und der erste Termin am Landgericht München I Anfang Januar dieses Jahres lief atmosphärisch sehr gut für ihn: Richter Frank Tholl äußerte sich zu den Einschätzungen des Verbraucherschutzministeriums - Grundlage für die Betriebsschließung - kritisch. Ein Urteil steht noch aus.
Ein Dreivierteljahr nach der Verhandlung und kein Richterspruch? Hingerl wundert sich nicht: Es gebe Verfahren, die sich noch länger hinzögen, sagt er. Für den Fall einer auf zwölf Millionen Euro erhöhten Schadenersatzforderung rechne er gar mit fünf bis zehn Jahren, sagt er. Der Freistaat Bayern spiele bei derartigen Verfahren auf Zeit, so Hingerls Einschätzung.
Als Sieber-Insolvenzverwalter ist der Rechtsanwalt noch so lange beschäftigt, "bis nichts mehr da ist". Bisher habe er die Maschinen, Gebäude und das Betriebsgelände an der Böhmerwaldstraße in Geretsried verkauft - dort produziert inzwischen der Pizza-Hersteller Franco Fresco. Jetzt gehe es ums Geld. Sollte er den Schadenersatz einklagen können, würden rund sieben Millionen Euro an Gläubiger gehen. Fünf Millionen - auf diese Summe schätzt Hingerl den Betrieb zum Zeitpunkt vor der Insolvenz - sind für den ehemaligen Inhaber gedacht. Dieser, so berichtet Hingerl, habe zwar heute eine neue Beschäftigung, aber weit unter seinen fachlichen Möglichkeiten.