Süddeutsche Zeitung

30 Jahre "Hinterhalt" in Gelting:Kraftzentrum der Kreativen

Kulturschaffende und langjährige Freunde der Geltinger Kleinkunstbühne halten Rückschau

Von Wolfgang Schäl, Geretsried

30 Jahre: Das klingt erst mal nicht nach einem sehr bedeutsamen Jubiläum. Doch die Zahl umfasst, anders als die gängigen 25er-Schritte in der Abfolge von Feierlichkeiten, einen besonders markanten Abschnitt, sie beschreibt eine Generation. So gesehen war es höchst sinnvoll, die drei Jahrzehnte Revue passieren zu lassen, in denen sich die Geltinger Kulturbühne "Hinterhalt" durch allerlei Widrigkeiten und Erfolgserlebnisse zu einer kulturellen Institution entwickelt hat, die weit über den Landkreis hinaus Bedeutung erlangt hat. Kurzum, Feiern war angesagt, ein bisschen Nabelschau, ein wenig Schwelgen in alten Zeiten, als beispielsweise der hiesige Wirt noch Matthias Röttig hieß und selbst noch als Kabarettist und Schauspieler seine "Hinterhalt"-Bühne betrat, im Zusammenwirken mit der Kabarettgruppe Narrenschaukel, aber auch als Solist und Verfasser von spontan verfassten Kurzgedichten.

Viele von denen, die dem "Hinterhalt" ihr Herz geschenkt und ihre Zuneigung über die Jahre hinweg durch engagierte Mitarbeit dokumentiert hatten, waren jetzt zum Jubiläum aufmarschiert, das als eine Art erweiterte Pressekonferenz, aber eigentlich mehr als geselliges Ereignis ohne genau definiertes Programm konzipiert war. Da waren Monika und Gerhard Schielein, die sich jahrelang intensiv eingesetzt haben, Claus Steigenberger, Dieter Klug, Hannelore Greiner, Christine Noisser sowie der längst prominente Kabarettist Christian Springer, der seine Programme allesamt auch hier auf die Bühne brachte, und sich seither mit dem "Hinterhalt" eng verbunden fühlt. Hier habe er "unheimlich viel gelernt", versicherte Springer.

Präsent war nebst Röttig auch dessen Nachfolgerin als Wirtin und Vorsitzende des Kulturvereins Isar-Loisach, Assunta Tammelleo, die sich einer besonderen Ehrung erfreuen durfte. Ein Frauenchor widmete ihr das bekannteste Chanson von Hildegard Knef: "Für mich soll's rote Rosen regnen". An Rosen mangelte es denn auch nicht, übrigens auch nicht an Luftballons.

Weil die vor vielen Jahren aufgelöste Narrenschaukel sich immer als eine politische Kabarettgruppe verstand, hat sie einst eine heikle Diskussion angestoßen: die erregte monatelange Debatte um den hochdekorierten Nazi-Schriftsteller Erwin Guido Kolbenheyer, der in Geretsried gelebt hat, und an den dort auch ein Straßenname erinnerte. Der unselige Kulturreferent Roland Brich musste damals, nachdem die Kontroverse in den Neunzigerjahren bundesweit Wellen geschlagen hatte, seinen Hut nehmen, die Kolbenheyerstraße heißt seither Graslitzer Straße - ein Erfolg, der in der Geltinger Kulturkneipe seinen Ausgang genommen hatte und durchaus ein Gefühl von Stolz hinterließ.

Ein Tiefpunkt war die Phase, als Röttig 2004 den "Hinterhalt" aufgab, der dann für zwei Jahre ein schlecht besuchtes Speiselokal war. Davor hatte es viele Sternstunden gegeben; insbesondere der unvergessliche Auftritt des melancholischen Liedermachers Townes van Zandt ist nachhaltig in Erinnerung geblieben. Einen zweiten in Deutschland geplanten Auftritt erlebte der drogenabhängige amerikanische Singer-Song-Writer nicht mehr, er starb kurz davor. Gäste in Gelting waren im Lauf der Jahre auch bekannte Größen wie die Kabarettisten Maria Peschek, Gerhard Polt, Josef Hader, Sigi Zimmerschied und die Virtuosin an der Original-Hammondorgel Barbara Dennerlein.

Das alles ist Vergangenheit, in eine romantische Rückschau dürfe man sich jetzt aber keinesfalls zurückziehen, appellierte Springer an die Versammelten. "Wir sind in einer anderen Zeit, in einer Scheißzeit, angekommen", sagte Springer, der sich in dem von ihm gegründeten Verein "Orienthelfer" international engagiert und sich insbesondere für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Syrien und dem Libanon einsetzt. Nunmehr gelte es auch im "Hinterhalt", nach 30 Jahren "die Stunde Null auszurufen" und eine neue Streitkultur in Gang zu setzen. An der müsse der "Hinterhalt" teilnehmen, denn von ihm sei "immer eine besondere Kraft" ausgegangen. "Es geht jetzt wieder los, und ich bin total auf eurer Seite," versicherte Springer.

Dass in den langen Pandemie-Monaten einiges anders geworden ist, bestätigte Tammelleo. "Das Kabarett wird immer schwieriger, wir sind viel musiklastiger geworden." Und man sei immer mehr auf anspruchsvolle Technik angewiesen, für die jetzt der "Hinterhalt"-Nachwuchs sorge. Anders wären die 25 000 Stunden Livestream-Programm, mit dem man sich über die Runden gerettet hat, nach Tammelleos Worten niemals möglich gewesen.

Immerhin will Claus Steigenberger einen kabarettistischen Neuanfang riskieren - er arbeitet an einem Programm, das er, wie er sagt, coronabedingt schon siebenmal habe umschreiben müssen.

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SZ vom 01.07.2021
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