Gebäudegeschichte:Ein Klassiker

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Das ehemalige Verstärkeramt in Kochel soll nach dem Willen der Gemeinde abgerissen werden. Doch es ist nicht einfach nur ein alter Bau, sondern ein architekturhistorisches Vorzeigeobjekt der frühen Moderne

Von KaIja Voss, Kochel am See

Kommt man von Benediktbeuern nach Kochel, sieht man am Ortseingang auf der linken Seite der Bahnhofstraße ein gelbes Gebäude mit Satteldach. Der Giebel ist zur Straße orientiert, ihn zieren symmetrisch angeordnete Fenster in klassischer Sprossenteilung, einst auch grüne Fensterläden. Das Dach hat eine 45-Grad-Neigung, die Fenster sind nahezu quadratisch. Ein Haus wie aus einem Bilderbuch, klassischer geht es nicht. Aufgrund einer Abrissentscheidung des Kochler Gemeinderates ist es aber derzeit sehr stark gefährdet. Die Stadt will auf dem Grundstück 16 bezahlbare Mietwohnungen neu errichten.

Die Borstei in München, ein in der Architektursprache vergleichbares Ensemble, das ebenso in den 1920er Jahren entstanden ist, steht hingegen als "kultivierte Wohnsiedlung" unter Denkmalschutz. In Kochel handelt es sich um einen technischen Bau, ein Verstärkeramt mit Werkstätten. In Verstärkerämtern befanden sich Relaisstationen, die elektrische Signale über längere Strecken verstärkten. Der Name stammt aus Zeiten des analogen Telefonierens und der staatlichen Verwaltung des öffentlichen Telefonnetzes. Alles Merkmale, die nicht mehr zeitgemäß sind. Der Bau aber ist sehr gut erhalten, wie so viele Gebäude der Bayerischen Postbauschule, die mittlerweile um die 90 Jahre alt sind. Ihr durchweg hoher Erhaltungszustand zeugt von handwerklicher Solidität und hoher Bauqualität. Die Postbauschule ist die wichtigste Manifestation des Aufbruchs in eine neue Architektur in Süddeutschland. Hintergrund war der Poststaatsvertrag von 1920, er sah den Übergang von der Bayerischen Staatspost in die Deutsche Reichspost in Berlin vor. Als Zeichen der Unabhängigkeit entstand in München eine separate Abteilung des Reichspostministeriums, mit Bauabteilung unter Leitung von Robert Vorhoelzer. Insgesamt wurden von 1920 bis 1935 etwa 350 Postbauten, nicht nur in München, auch in Dörfern und Kleinstädten gebaut.

Gegen den Abriss des Verstärkeramtes in Kochel wächst Widerstand, weil es ein Paradebeispiel für die Architektur der Postbauschule ist. (Foto: Jean Molitor/oh)

Das Verstärkeramt in Kochel von 1927 zählt zu den traditionellen und im Reformstil der Münchner Schule gestalteten Zweckbauten der Post. Bemerkenswert sind die Detailausbildungen der sonst schlicht gehaltenen Baukörper, die Gesimse, Fensterläden und Dachüberstände, die gut proportionierten Satteldächer, das Formenspiel der Fenster und Türen sowie die Verwendung von Natursteinen. Im Inneren kommen Messinghandläufe und ebensolche Türklinken zum Einsatz. Das großzügige Treppenhaus des Amtsgebäudes wurde wahrscheinlich von Heinrich Tessenows berühmtem Festspielhaus der Gartenstadt Dresden-Hellerau (1911) inspiriert. Die Schmiede- und Spenglerarbeiten sowie die Fresken und Reliefs an den Fassaden stammen von namhaften Künstlern wie Fritz Schmoll (genannt "Eisenwerth") oder Georg Demmel, Kunstmaler aus Königsdorf. Die Architekten des Verstärkeramtes sind Robert Vorhoelzer und Franz Holzhammer, der von 1930 an sein Nachfolger als Leiter des Baureferates der Oberpostdirektion wird. Holzhammer ist zudem Schüler von Theodor Fischer und Friedrich von Thiersch. Beteiligte Architektin ist Hanna Löv, die erste weibliche Regierungsbaumeisterin in Bayern. Weitere Mitarbeiter sind Theo Pabst, Sigmund Schreiber und Ernst Jäger. Auch das benachbarte Postamt in Kochel, realisiert von Holzhammer und Löv, ist ein typisches Beispiel der Postbauschule. Es wurde in der Zeitschrift "Baumeister" (9/1940) veröffentlicht.

In den frühen 1920er Jahren entwickelt Vorhoelzer viele Postbauten der Reformarchitektur, darunter Penzberg, Murnau oder München, wie die Post an der Agnesstraße und die Oberpostdirektion an der Arnulfstraße. Im Baureferat der Post bot sich auch gestalterischer Freiraum in Richtung Moderne: Etwa ab Mitte der 1920er Jahren plant Vorhoelzer für München in den Formen des Bauhauses. Es entsteht das Paketzustellamt (1925-26), erkennbar am gläsernen Zylinder als Oberlicht eines kreisrunden Funktionsraumes. Weitere Paradebeispiele für gelungene Moderne folgen bis 1934, wie die Post an der Tegernseer Landstraße, die Postämter am Harras, am Goetheplatz und in der Fraunhoferstraße. Geschwungene Gebäudefronten, gerundete und "gläserne" Ecken, weiße kubische Baukörper, Flachdächer und großzügige Verglasungen setzen neue architektonische Maßstäbe. Auch diese Bauten stehen heute unter Denkmalschutz.

Das Dilemma in Architektur und Kunsthandwerk beginnt im 19. Jahrhundert mit dem Einsatz industrieller Methoden und der Abkehr vom Handwerk. Der Historismus ist veraltet, die aufkommende Industrie wird als seelenlos empfunden. Eine Entwicklung in ganz Europa. Walter Gropius, Gründer des Weimarer Bauhauses, schreibt in seinem Bauhausmanifest von 1919: "Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück!" Vier Jahre später bereits, 1923, lautet der Titel der Bauhausausstellung: "Kunst und Technik - eine neue Einheit".

Doch das Bauhaus ist nicht die "Stunde null" der Moderne, auch wenn es Gropius gerne so sah. Und es ist nicht die einzige Idee in der Architektur, auf dem Weg vom Historismus in die Moderne. Der Name Reformarchitektur bezeichnet Architekturströmungen um 1900, die sich zwar von historisierenden Formen abwandten, aber an traditionellen Baumaterialien und Bauweisen festhielten. Architekten, die im Reformstil arbeiteten, bevorzugten einfache Formen, baumeisterliche Solidität und handwerkliche Qualität. Wie bei den Bauten der Bayerischen Postbauschule.

2019 feiert das Bauhaus, die wohl bedeutendste Kunst- und Architekturschule des 20. Jahrhunderts, seinen 100. Geburtstag. Rund um das Jubiläum werden Architekturausstellungen geplant, unzählige Veranstaltungen und Veröffentlichungen werden die Vorläufer der Moderne, parallele Entwicklungen sowie Erben des Bauhauses würdigen.

Das Verstärkeramt in Kochel gehört, zusammen mit dem Postamt, dem Walchenseekraftwerk und dem Ferienheim von Emil Freymuth (1930), zu einem wichtigen Zentrum der frühen Moderne in Bayern. Als technischer Bau ist es ein Vorzeigeobjekt der Bayerischen Postbauschule.

© SZ vom 06.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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