Süddeutsche Zeitung

Friedensnobelpreisträgerin in Benediktbeuern:"Vorbild und Brückenbauerin"

Irina Scherbakowa spricht bei ihrem Besuch an der Katholischen Stiftungsfachhochschule über die Arbeit der Menschenrechtsorganisation "Memorial", den Krieg gegen die Ukraine und die Fehler deutscher Politik gegenüber Putin.

Von Petra Schneider, Benediktbeuern

Am 7. Oktober wurde bekanntgegeben, dass die 1989 gegründete Menschenrechtsorganisation "Memorial" mit Hauptsitz in Moskau den diesjährigen Friedensnobelpreis bekommt, gemeinsam mit Organisationen aus der Ukraine und Belarus. Seit 2016 wird Memorial in Russland auf der Liste "ausländischer Agenten" geführt, Anfang 2022 ordnete ein Gericht die Auflösung der unabhängigen Organisation an. Das Moskauer Büro wurde durchsucht und verwüstet, Mitarbeiter verhaftet. Als Begründung habe die Staatsanwaltschaft erklärt: "Sie versuchen das Bild eines Terrorstaates aufzubauen und unsere Jugend anti-patriotisch zu erziehen", erklärte Irina Scherbakowa, die jetzt zu einem Besuch an die Katholische Stiftungshochschule (KSH) nach Benediktbeuern kam.

Die 1949 in Moskau geborenen Germanistin und Historikerin ist Mitbegründerin von Memorial und setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, über die Repressionspolitik der ehemaligen Sowjetunion aufzuklären. Denn eine "Erinnerungskultur" sei ein wesentliches Element demokratischer Zivilgesellschaften, sagt sie. Im März 2022 musste Scherbakowa ihre Heimat verlassen, sie lebt zurzeit in Weimar und ist Gastprofessorin an der Universität Jena. 2016 entstand der Kontakt zur KSH über Professorin Annette Eberle. Seither gibt Scherbakowa regelmäßig Lehrveranstaltungen mit Schwerpunkt "Soziale Arbeit und Menschenrechte aus historischer Perspektive" an der KSH München und Benediktbeuern. "Frau Scherbakowa ist für uns schon seit vielen Jahren Vorbild und Brückenbauerin", sagte Eberle. Auch Birgit Schaufler, Präsidentin der KSH München, freut sich über die enge Verbindung mit Scherbakowa, die auf "internationaler Ebene eine der herausragenden Persönlichkeiten im Kampf um die Menschenrechte ist".

Memorial habe ein internationales Netzwerk mit rund 80 Geschäftsstellen aufgebaut, erklärte Scherbakowa. In der Moskauer Geschäftsstelle seien mehr als 100 Mitarbeitende tätig gewesen. "Viele von uns sind weggegangen, die meisten nach Deutschland", sagte Scherbakowa, deren Familie seit Generationen enge Beziehungen zu Deutschland pflegt; ihr Vater etwa war mit Heinrich Böll befreundet. Man versuche, die Projekte von Memorial fortzuführen und Hunderttausende von Dokumenten zu digitalisieren, die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen bezeugten.

Auch, um den Opfern ein Gesicht zu geben. Die "Namenlesungen" am 29. Oktober auf dem Lubjanka-Platz in Moskau zum Gedenken an die Opfer des Stalin-Regimes fänden nicht mehr statt, angeblich wegen Corona. Das Gulag-Museum gebe es noch, allerdings unter staatlicher Kontrolle. Geschichtsverfälschung werde in autoritären Staaten oft als Mittel eingesetzt, um demokratische Prozesse zu verhindern. Putin sei seit fast 23 Jahren an der Macht. Vieles habe sich bereits sehr früh angedeutet. So würden seit den 1990er Jahren sowjetische Symbole wieder verwendet: Hymne und Wappen, die Armee schwenke rote Fahnen. Mit einem immer "militanter werdenden Nationalismus" würden Ideen genährt, die sowjetische Großmacht wiederherzustellen. In diesem Sinn werde Geschichte umgedeutet und "schwarze Flecken" entfernt. Etwa Gedenksteine an den Erschießungsorten von 20 000 polnischen Soldaten, deren Schicksal Memorial jahrzehntelang erforscht habe.

Seit 2011 vollziehe sich eine "ziemlich offene Verwandlung in einen autoritären Staat", sagte Scherbakowa. Mit der Annektierung der Krim habe sich das verstärkt, "die Ukraine wird seit 2014 von Russland nicht mehr als souveräner Staat gesehen." War der Westen zu naiv, Deutschland zu abhängig von russischem Öl und Gas? Memorial habe immer gewarnt, auch deutsche Politiker, "aber man wollte das nicht glauben." Es herrschten oft Klischeevorstellungen über die "russische Seele", außerdem habe man Konflikte mit Russland, auch aus Angst, vermeiden wollen. Die Strategie "Wandel durch Handel" funktioniere nicht ohne Demokratie. In Deutschland habe die Meinung geherrscht: Man müsse mit Russland Geduld haben, Demokratie brauche Zeit, um sich zu entwickeln. "Aber Putin war nie ein Demokrat", betonte Scherbakowa. Das habe sich sehr schnell abgezeichnet, als er Mitglieder der Staatssicherheit in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen etabliert und erklärt habe: Russland gehe einen Sonderweg, man habe "eine andere Demokratie".

Verfängt die russische Propaganda in der Bevölkerung? Eine freie Presse gebe es nicht mehr, sagte Scherbakowa. "Die Leute glauben der Propaganda, und manche wollen es nicht wissen." Den kritischen Anteil an der Bevölkerung schätzt sie auf unter 20 Prozent. "Aber die Teilmobilisierung hat einiges in Frage gestellt."

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