So viel könne da ja nicht gewesen sein: Das habe er gedacht, als er zum ersten Mal von einem Lager für jüdische Holocaust-Überlebende bei Wolfratshausen hörte, erzählt Alois Berger. "Föhrenwald", das war zu jener Zeit an vielen Orten der Welt ein Begriff, in Israel allemal, in den USA und anderen Ländern, in die Jüdinnen und Juden emigriert waren. In Wolfratshausen aber, wo Berger, heute 65 Jahre alt, aufgewachsen ist und das Kolleg Sankt Matthias besucht hat, sagte es jahrzehntelang nur wenigen etwas. Berger berichtet, es sei eine kleine Ausstellung der Wolfratshauser Stadtarchivarin Marianne Balder gewesen, die ihn vor 25 Jahren auf das Thema aufmerksam machte. Und obwohl der Journalist Berger bereits vor drei Jahren ein Radio-Feature über Föhrenwald verfasst hat und jetzt, nach intensiver Recherche in Deutschland, Israel und den USA, ein Buch zu dem Thema herausbringt, sagt er immer noch: "Ich komme aus der Fassungslosigkeit nicht raus."
Es ist eine Bestürzung über die Verdrängung in der Nachkriegszeit, aber auch die Erkenntnis der Größe und Bedeutung Föhrenwalds. "Ben-Gurion und Eisenhower waren da", sagt Berger. Zwischen Israel und der deutschen Regierung sei über Föhrenwald verhandelt worden. Das Camp in der früheren NS-Rüstungsarbeitersiedlung im Wolfratshauser Forst war das am längsten von allen Auffanglagern existierende - bis 1957 die letzten Juden gegen ihren Willen kinderreichen deutschen Heimatvertriebenen Platz machen mussten. Und Föhrenwald von der katholischen Kirche, der das Gelände inzwischen gehörte, in Waldram umbenannt wurde, nach dem ersten Abt des Klosters Benediktbeuern. Für Tausende jüdischer Überlebender war "Ferenwald", wie es auf Jiddisch heißt, bis dahin eine sichere Bleibe gewesen. Nun waren sie weg und mit ihnen der Name und die Erinnerung. "Föhrenwald, das vergessene Schtetl" ist der Titel des Buchs, das Berger geschrieben hat.
"Wir haben nicht darüber geredet." Diesen Satz hat Berger bei seinen Recherchen in seiner Heimatstadt Wolfratshausen öfters gehört. Und diese Erfahrung der Sprachlosigkeit hat auch Eva Greif gemacht. Die Geschichtslehrerin ist in Waldram aufgewachsen. Sie wusste, dass ihre Mutter schon in der Nazizeit als Dienstverpflichtete dort gewesen war. "Aber sie hat nie darüber geredet." Erst als Greifs Tochter Sophie Scholz die Großmutter befragte, erzählte die detailliert und ausführlich. Von der Siedlung für Fremd- und Zwangsarbeiter der großen Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst; von ihrer eigenen Arbeit im Büro der NS-Rüstungsverwaltung; und schließlich auch vom jüdischen Lager. "Ein halbes Jahrhundert lang hatte die Frau geschwiegen", schreibt Alois Berger in seinem Buch, "erst als die Enkelin mehr wissen wollte, brach es aus ihr heraus."
Es ist Eva Greif, Sissy Mayrhofer, Sabine Henschelchen und Maria Mannes zu verdanken, dass die Geschichte Föhrenwalds am Ort des Geschehens erkundet wurde. Zuvor hatte es keine sichtbaren Hinweise gegeben. "Man sah ja nichts", sagt Greif. Erst auf Initiative der Frauen wurde eine Hinweistafel am Ortseingang angebracht. Und ohne Greifs Aufmerksamkeit gäbe es auch den heutigen Erinnerungsort Badehaus Waldram-Föhrenwald nicht. Das Haus, in dem einst eine Mikwe - ein jüdisches Ritualbad - existierte, wäre genauso abgerissen worden wie die umliegenden Gebäude, da die katholische Kirche alles neu bebauen wollte.
In diesem Erinnerungsort, den der Verein Bürger fürs Badehaus aus eigener ehrenamtlicher Kraft geschaffen hat, liest Berger am Sonntag aus seinem Buch. Das Publikum wird etwas erfahren über die "bitteren Kämpfe" zwischen dem ultraorthodoxen Rabbi Yekusiel Yehuda Halberstam und dem Zionisten Gedalyahu Lachman, der das Selbstverwaltungskomitee Föhrenwald leitete. Es wird Einblick bekommen in die Kampfausbildung von Juden im früheren Hochlandlager der Hitlerjugend bei Königsdorf. Und es wird hören, wie wichtig Föhrenwald dem ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion war.
Nach der Lesung führen Berger und die Badehaus-Leiterin Sybille Krafft ein Gespräch mit dem Journalisten Anton Jakob Weinberger über dessen Kindheit in Föhrenwald. In einem Interview der Jüdischen Allgemeinen wird Weinberger so zitiert: "Was bedeutet es für mich, Jude zu sein? Ich sage es mit einem Satz meiner Mutter: ,Du bist als Jude geboren, und du wirst als Jude sterben.' Da kann ich nur sagen, sie hat recht. Ich bin in einem orthodoxen jüdischen Elternhaus aufgewachsen - mit allem, was jüdisches Leben ausmacht. Was Orthodoxie anbelangt, kann mir schwer jemand etwas vorerzählen oder vorleben. Wir hatten einen strikt koscheren Haushalt. Alle Feiertage wurden eingehalten."
Die Veranstaltung wird umrahmt mit jiddischen Liedern, gesungen und auf der Gitarre gespielt von Eva Greif und Conny Schubert. Sonntag, 26. März, 18 Uhr, Erinnerungsort Badehaus, Kolpingplatz 1, Wolfratshausen-Waldram. www.erinnerungsort-badehaus.de