Der Titel ist ebenso poetisch wie programmatisch: „Mit Stein und Stern verwoben – ein Boot will fliegen“ hat Wilhelm Holderied die Skulptur genannt, an der er derzeit in seinem Atelier in Geretsried arbeitet. Das Modell im Maßstab eins zu zehn ist schon fertig, der Künstler hat es knallrot lackiert. Das Original wird zwei Meter lang, 1,75 Meter hoch und 50 Zentimeter tief sein und rund 100 Kilogramm wiegen: ein rotes Sternen-Boot, das am 17. Mai auf dem Erdzeichen „Eine Insel für die Zeit“ am Münchner Flughafen anlanden soll, bereit für eine Reise ins Universum.


Anlass dieser Arbeit ist das 30-jährige Bestehen des Erdzeichens, einer monumentalen Bodenskulptur, die Holderied 1995 geschaffen hat. Der Gedanke, ein Wegzeichen auf der Erde zu hinterlassen, war ihm bei einem Flug über Mexiko gekommen, als ihm das wie gefaltet anmutende mexikanische Hochland ins Auge gestochen war. Dies regte ihn an, ein Orientierungszeichen auf dem damals im Bau befindlichen neuen Münchner Flughafen zu hinterlegen, „eine Flugwegmarke für die an- und abfliegenden Passagiere und Piloten“, sagt der Künstler. „Ein Gruß von der Erde.“

Das Erdzeichen, ein monumentales Relief, erschließt sich in voller Gänze nur aus der Vogelperspektive. Fluggäste können nur unmittelbar nach dem Start oder kurz vor der Landung einen Blick darauf werfen. „Die Idee war, der hektischen Betriebsamkeit eines Flughafens die nahezu ruhende, inselhafte Zeit des Moorgebietes gegenüberzustellen“, erläutert Holderied. Er entschied sich, ein rhythmisches Zeichen für die Zeit zu schaffen und wählte das Symbol der liegenden Acht, das für Unendlichkeit steht. „Das langsame, aber stetige Fließen der Zeit wird dabei gespiegelt von tiefen Furchen und aufgeschütteten Wällen, die als Wellentäler und Wellenberge in einem ausufernden Band verfließen.“
„Heute würde ich das nicht mehr machen“
Aufregend sei die Verwirklichung des Erdzeichens gewesen, erinnert sich der international renommierte Künstler. Das Konzept war längst entwickelt, Computersimulationen lagen vor, auch die Baupläne waren gezeichnet und eingereicht, was noch fehlte, war die Finanzierung. Irgendwie mussten auf die Schnelle 600 000 Mark aufgebracht werden. „Heute würde ich das nicht mehr machen“, lacht Holderied. Viele engagierte und weitsichtige Menschen hätten sich 1994 zusammengefunden, um die Arbeit zu realisieren, allen voran die Flughafen München GmbH (FMG), auf deren Grund das Erdzeichen steht.
„Be part of Art“ lautete der Slogan: Die Idee war, die Furchen des Erdzeichens in Metersegmente zu unterteilen und diese durch Förderer zu finanzieren. Als Zertifikat erhielt jeder Geldgeber einen Kunstdruck des Erdzeichens, auf dem „sein“ Metersegment eingetragen wurde. Außerdem gab es Acryl-Originale und Radierungen mit thematischem Bezug zum Erdzeichen. Innerhalb kurzer Zeit fanden sich rund 400 Interessierte, die „Part of Art“ wurden. „Zwei Jahre lang habe ich ununterbrochen gemalt“, erinnert sich Holderied. Ideell aufgeteilt wurde nur der geometrische Bereich, nicht aber „die Locke“, der „Unschuldsteil“, wie Holderied den Abschnitt nennt, der aus der liegenden Acht gleichsam herausfließt.

Zu den Förderern gehörten Petra und Michael Uhl. „Es ist ein kolossales Werk. Wenn wir in den Urlaub fliegen, versuchen wir, das Erdzeichen zu fotografieren“, sagt Michael Uhl. „Wir haben auch schon bei Entbuschungs- und Pflegeaktionen mitgeholfen.“ Ihr Einsatz habe damals 400 Mark betragen. „Dafür hängt jetzt ein echter Holderied in unserem Wohnzimmer. Wir freuen uns jeden Tag über das Bild.“
Auch die Architektin Susanne Adler überlegte nicht lange und war bei der Realisierung des Erdzeichens mit dabei. Beruflich habe sie stets mit rechten Winkeln zu tun, sagt sie. Das Besondere an der Kunst von Wilhelm Holderied sei, dass er Materialien der Natur umgestellt und daraus ein neues Bild erschaffen habe. „Für mich ist das Erdzeichen mystisch. Von ihm aus kann man Gedanken ins Universum senden und empfangen.“
Galerist verzichtet auf Provision
Maßgeblich zur Finanzierung beigetragen hat der Memminger Galerist Helmut Neuendorf. „Wir haben damals eine Ausstellung mit Werken von Wilhelm Holderied organisiert, bei der man Metersegmente des Erdzeichens erwerben konnte“, erinnert er sich. „Ich habe auf die Provision verzichtet und mich gefreut, dass viele Leute mitgemacht haben.“
Baubeginn war der 7. September 1994. Auf einer Fläche von 270 auf 170 Metern wurde zunächst der Humus abgetragen und der Boden aufgebrochen. Riesige Baggerschaufeln und technisches Gerät kamen zum Einsatz, Bauingenieure und Arbeiter waren über Monate mit Präzision im Einsatz. Es wurden 1,90 Meter tiefe Furchen gegraben und 1,50 Meter hohe Wälle aufgeschüttet. An Material wurde also nichts weggenommen oder hinzugefügt, vielmehr wurde das Vorhandene umgeschichtet. Durch die Verdichtung des Bodens entstanden die Wellentäler und -berge, die bis heute erstaunlich gut erhalten sind.

Nach knapp elf Monaten war die Skulptur im Juli 1995 fertiggestellt. Bei der Eröffnungsrede konstatierte der Ingenieur Manfred Steffen: „Das Kunstwerk wurde zu einer Erdbaumaßnahme beträchtlicher Dimension, die noch dazu schwierige und genaueste Vermessungen und eine äußerst sensible Handhabung der schweren Erdbaugeräte erforderte.“ Doch der Einsatz hatte sich gelohnt. Es war ein neuer Ort mit einem ganz eigenen Rhythmus entstanden. Die Kraft und Ausstrahlung der Skulptur wurzelt in ihrer Einfachheit und Klarheit. Zwischen Start- und Landebahnen, wo Geschwindigkeit und Hightech den Ton angeben, vermittelt sie als „Insel für die Zeit“ Orientierung und Ruhe.
„Für mich ist es das wichtigste Kunstwerk, das München zu bieten hat“
Für den Piloten Joannis von dem Borne, der seit mehr als drei Jahrzehnten fliegt, gehört das Erdzeichen zum Münchner Flughafen wie der Tower und die Landebahn. „Es macht den Ort besonders und einzigartig“, sagt er. Das Erdzeichen bedeute für ihn ein Gefühl des Nachhausekommens. „Ein- bis zweimal im Jahr fahre ich hin und setze mich eine Stunde darauf. Für mich ist es das wichtigste Kunstwerk, das München zu bieten hat.“

Seit 1995 wird das Erdzeichen von einem Freundeskreis gepflegt, der Bäume und Sträucher entfernt. Anderer Wildwuchs darf bleiben. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich so eine besondere Flora und Fauna angesiedelt. Mittlerweile wachsen dort mehr als 80 Pflanzenarten, die in den Wellentälern und Wellenbergen optimale Lebensbedingungen vorfinden, darunter Florentiner Habichtskraut und Schaf-Schwingel, Behaartes Weidenröschen und Wehrlose Trespe. Ein Biotop, das nicht nur Feldhasen, sondern auch Wissenschaftler anzieht: Eine Gruppe der Bayerischen Botanischen Gesellschaft hat bereits 2010 eine Liste der Pflanzenarten erstellt, die sich dort etabliert haben. Darunter sind mehrere Arten, die in den Vorwarnlisten Bayerns und Deutschlands geführt werden. Eine aktuelle Studie soll folgen.
Absolute Stille
Wer das Erdzeichen zu Fuß erkundet, erlebt in den Furchen absolute Stille. Der Weg ist vorgezeichnet, es gibt kein Ausweichen, kein Verirren. Darüber spannt sich der unendliche Himmel. Wer auf den Wellen geht, beobachtet Licht und Schatten, hört den Lärm der beiden angrenzenden Autobahnen und blickt auf eine landwirtschaftlich genutzte Fläche, die das Erdzeichen direkt umgibt. Das Kunstwerk bezieht die Natur als Mitgestalter ein: Jedes Licht verändert das Erdzeichen, jedes Wetter lässt es neu erscheinen. Wenn Wasser in den Furchen steht, spiegeln sich darin die Flugzeuge, die München verlassen oder ansteuern. Im Winter verhüllt Schnee das Zeichen. Das Werk ist an keinem Tag so wie am vorangegangenen. Durch die Symbiose mit der Natur ist es einem steten Wandel unterworfen.

Das Motiv der liegenden Acht findet sich in zahlreichen Arbeiten Holderieds wieder. Es scheint, als ob er sich durch das Malen dem Werk annähere und es geistig durchdringe. Stets verwendet er dazu kräftige Farben. Das gilt auch für die Gemälde zu seiner Bootsskulptur, die derzeit in seinem Atelier hängen und das Thema variieren.
„Die Sternenforschung der Maya und die im späten Mittelalter beginnende Sternen- und Weltraumforschung in Europa haben mich immer schon sehr inspiriert“, sagt er. Mit „Mit Stein und Stern verwoben – ein Boot will fliegen“ baue er eine Brücke zwischen Himmel und Erde und schaffe „einen poetischen Raum, dessen Stille diese Verbindung zwischen Erde und Sternenraum beschwört“.
Das 30-jährige Jubiläum des Erdzeichens am Münchner Flughafen wird mit der Ausstellung „Rhythmus der Spuren“ im Freisinger Schafhof gefeiert (10. Mai bis 9. Juli ). Am 17. Mai ist von 13 Uhr an eine szenische Aktion auf dem Erdzeichen geplant.