Während viele am Samstagabend in Münchner Bars sitzen und feiern, macht sich eine Gruppe aus Geflüchteten, Ehrenamtlichen und Unterstützern zu Fuß auf den Weg nach Wolfratshausen. 33 Kilometer und eine ganze Nacht auf den Beinen haben sie vor sich. Obwohl es anfangs regnet und gewittert, sind alle Läufer motiviert und gut gelaunt. Mit ausreichend Proviant und entsprechender Kleidung beginnen die 44 Wanderer um 22.30 Uhr nahe dem Marienplatz in München ihre Tour.
Viele von ihnen sind nicht das erste Mal dabei. Die Nachtwanderung findet das vierte Jahr in Folge statt und wird von Paul Huf und seinem Verein „The long run“ organisiert. Die Vereinsmitglieder begleiten Geflüchtete in München. Die Idee für die alljährliche Nachtwanderung kam auf, da langes Laufen gegen Traumata helfen soll. Noch dazu soll das Projekt zu spannenden Gesprächen und neuen Kontakten führen. „Die Wanderung ist die beste Art sich zu unterhalten“, sagt Huf. Die Aktion heißt „Walk into the light“, da alle Beteiligten wortwörtlich von der Dunkelheit ins Licht gehen.
Die Route führt immer entlang der Isar. Begleitet vom Rauschen des Flusses erhellen anfangs noch Laternen den Weg, man sieht Grüppchen feiern und hört ihre Musik. Ein paar Kilometer später begegnen den Wanderern kaum noch andere Menschen. Nur ihre Stirn- und Taschenlampen spenden Licht. Glücklicherweise hat der Regen nach einer Weile aufgehört und es ist nicht zu kalt.
Viele erinnert langes Laufen an die Flucht aus ihrem Heimatland. Die Nachtwanderung soll daher dabei helfen, das Gehen langer Strecken auch mit positiven Eindrücken verbinden zu können. Diesen therapeutischen Aspekt hebt Laurin Schulte hervor. Der 24-Jährige erklärt: „Für viele ist das nichts Neues. Der Gedanke ist, das zu etwas Positivem zu machen.“ Schulte engagiert sich seit 2017 bei der gemeinnützigen Organisation „Helpernet“ für Geflüchtete und ist ebenfalls bei „Trigg“, einer traumapädagogischen Gruppe für Geflüchtete in Geretsried und Wolfratshausen, aktiv. „Trigg“ ist mit Geflüchteten und ehrenamtlichen Helfern in diesem Jahr nun schon das zweite Mal bei der Nachtwanderung dabei. Vor allem die symbolische Bedeutung ist Schulte wichtig: Ein Ereignis wie dieses stärke die Verbindung zwischen den verschiedenen Menschen, aber auch zwischen Stadt und Land, zwischen München und Wolfratshausen.
Nach acht Kilometern Strecke besteht die letzte Chance, in die S-Bahn zu steigen. Wer sich dagegen entscheidet, muss bis zum Ende mitlaufen. Und tatsächlich gehen die meisten Teilnehmer weiter. Unter vielen herrscht schon von Beginn an angeregte Konversation. Das hält die Müdigkeit fern und vertreibt die Zeit. Zudem ist die Nacht lang genug, um viele Menschen kennenzulernen. Hierbei spielt es keine Rolle, dass viele Gesprächspartner verschiedener nicht sein könnten. Auch die Herkunft der Teilnehmenden ist sehr unterschiedlich: Aus elf Nationen, unter anderem Pakistan, Iran, Kongo, Sierra Leone, Irak, Marokko, Afghanistan und Jemen, kommen die Wanderer.
Jotiyar Suliaman Katw kommt aus dem Irak und ist das zweite Mal bei der Nachtwanderung dabei. Der 26-Jährige ist seit 2016 in Deutschland und beherrscht die Sprache inzwischen sehr gut. Aus dem Irak ist er vor einigen Jahren mit etwa 13 weiteren Menschen zu Fuß in die Türkei geflohen: „Viele meiner Bekannten mussten deutlich längere Strecken zu Fuß überwinden“, sagt Katw. Bei ihm waren es circa vier Stunden. In der Türkei angekommen, musste der Iraker dann mit zwei seiner Gefährten im Kofferraum eines Autos nach Griechenland fahren. Nur über ein kleines Loch im Kofferraumdeckel hätten sie Luft zum Atmen bekommen. Von dort ging es mit einem Lkw nach Italien. Es sei sehr unheimlich gewesen, beschreibt er seine Erfahrung.
Im Taschenlampenlicht über Bäume klettern oder Pfützen ausweichen
Nach ungefähr 15 Kilometern beginnen bei vielen Teilnehmenden die Füße weh zu tun. Doch es sind noch immer alle wach und motiviert. Etwas später verlässt die Gruppe die Münchner Vororte, und die Wege werden schmaler und unbefestigt. Die Strecke führt durch den Wald, und die Wanderer müssen im Taschenlampenlicht über Bäume klettern, sich darunter hinweg ducken oder Pfützen ausweichen. Immer häufiger werden Steine aus Schuhen geschüttelt oder diese für eine Weile sogar ganz ausgezogen.
Trotz allem verstummen die Gespräche nicht. Jotiyar Suliaman Katw erzählt, nach seinem ersten Asylantrag in Deutschland sei er nach Italien abgeschoben worden. Danach habe er mithilfe eines Rechtsanwaltes Kirchenasyl beantragt und die nächsten sechs Monate in Erlangen gewohnt. Gerade habe er seine Ausbildung zum Einzelkaufmann abgeschlossen, sagt Katw stolz. Er arbeitet nun in einem Fahrradgeschäft, kann sich aber auch vorstellen, nach seinem Abschluss ein eigenes Geschäft aufzubauen.
Als die Gruppe um fünf Uhr am Kloster Schäftlarn vorbeiwandert, wird es hell. Wenige Minuten später geht die Sonne auf, und auch die Vögel fangen an zu zwitschern. Die ersten Sonnenstrahlen fallen in erschöpfte, aber noch immer motivierte Gesichter, der letzte Streckenabschnitt beginnt.
Nach einer letzten kurzen Pause in der Pupplinger Au und einem kleinen Motivationstanz von allen, die noch genug Energie haben, stehen die Wanderer mit dem Sieben-Uhr-Glockenläuten vor den Toren von Wolfratshausen. Eine halbe Stunde später haben sie es endlich geschafft: Nach und nach treffen alle Teilnehmer im Japanischen Garten in Wolfratshausen ein und werden dort im Morgenlicht mit einem wohltuenden Kaffee und frischem Gebäck empfangen.