Süddeutsche Zeitung

Extremsport:Im Laufen ganz bei sich

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Der Wolfratshauser Günter Marhold gehört zu den besten Ultra-Marathon-Läufern. Momentan bereitet er sich auf die Deutsche Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf vor

Von Benjamin Engel, Wolfratshausen

Ein einfaches Marmeladenglas steht auf dem Tisch auf der Terrasse von Günter Marhold in Wolfratshausen. Es ist mit Kieselsteinen gefüllt. 154 sind es. Der 48-jährige Lehrer an der Geretsrieder Franz-Marc-Förderschule hat eigens nochmals nachgezählt. Jeder einzelne Kiesel steht für eine Umrundung des Starnberger Sees im Joggen. "Ich trainiere häufig um den See. Das sind genau 50 Kilometer. Wenn ich von meiner Haustür in Wolfratshausen loslaufe, sind es 75. Das mache ich aber nicht so oft", sagt Marhold. Immer, wenn er eine Seeumrundung geschafft hat, nimmt er einen Kiesel mit. So bringt sich Marhold in Form für eine ganz spezielle Sportart. Er ist Ultramarathon-Läufer. Darunter fallen Wettbewerbe mit mehr als 42,195 Kilometern, der Streckenlänge eines Marathons.

In der Szene zählt Marhold zumindest in der Bundesrepublik zu den Besten. 2013 wurde er Deutscher Meister im 24-Stunden-Lauf. Dabei müssen die Läufer in 24 Stunden die längstmögliche Strecke zurücklegen. 229 Kilometer schaffte Marhold 2013. In diesem Jahr waren es bei der Ultra-Marathon-Weltmeisterschaft für das Deutsche Nationalteam in Belfast Anfang Juli knapp 240 Kilometer. In der Teamwertung erreichten die Deutschen den sechsten Platz, vor zwei Jahren stand Marhold mit dem Team als drittplatzierte Mannschaft bei der Weltmeisterschaft in Turin auf dem Siegertreppchen. Und mit der Mannschaft vom TSV Wolfratshausen hat er bei der Deutschen Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf am ersten Septemberwochenende in Gotha sogar die Chance auf das Triple. 2015 und 2016 triumphierte er mit seinen Team-Kollegen. Jeweils die besten Drei werden gewertet.

Für viele ist schon diese Distanz eine kaum vorstellbare Herausforderung. Doch wie kommt jemand dazu, 24 Stunden am Stück zu laufen mit Distanzen weit über 200 Kilometern? Für Marhold ist es Ausgleich zum Beruf und eine Art Philosophie. "Das ist wie eine kleine Katharsis. Wenn man sehr lang unterwegs ist, mistet man gedanklich aus." Er sei dann ganz auf sich selbst fokussiert, durch nichts mehr abgelenkt. "Man ist halt einfach", sagt er. Als Extremsport empfindet er das Ultramarathonlaufen nicht. Es sei eben eine lange Ausdauersache, und mehr nicht, sagt er.

Auf der Terrasse seines Hauses am Wolfratshauser Berghang mit Blick auf die Alpenkette erzählt der Lehrer von rund 1000 Wettkampfkilometern in einem durchschnittlichen Jahr und einem Vielfachen an Trainingskilometern obendrauf. Von einer Sucht will der Familienvater nicht sprechen. Seine Frau - mit ihr hat er zwei Töchter - sage zwar, er sei unausgeglichen, wenn er länger nicht laufe. "Ich selbst würde nicht so weit gehen." Er könne auch fünf Wochen auf das Laufen verzichten, sagt er. Genauso hocke er stundenlang auf seiner Terrasse und schaue einfach nur "blöd" vor sich hin. Ob dadurch das kleine Bäuchlein zu erklären ist, das sich beim dem Mann mit dem ansonsten drahtig und durchtrainiert wirkenden Körper unter dem T-Shirt abzeichnet? Marhold sagt, dass er es nach der Weltmeisterschaft in Belfast Anfang Juli mit dem Training etwas schleifen habe lassen. Wenn er keine Lust habe, laufe er eben nicht. Bis heute ist er 50 Marathons und 105 Ultra-Marathons gelaufen. Bei den kürzeren Marathon-Distanzen achtet Marhold inzwischen gar nicht mehr auf die Zeit. Sie dienten rein dem Training. Gerade bei längeren Strecken und über mehr Zeit sei die Atmosphäre wesentlich entspannter als über kurze Strecken. Unter den Läufern gebe es mehr Solidarität. 24-Stunden-Läufe führten über einen ein bis zwei Kilometer langen Rundkurs immer im Kreis. Die Teilnehmer sähen sich die ganze Zeit, litten gemeinsam und feuerten sich auch gegenseitig an. Geschlafen wird während des Laufs nicht. Wenn die Teilnehmer auf die Toilette müssen oder Pause machen, läuft die Uhr weiter. Um die Distanz durchzustehen, seien Essen und Trinken wichtig. In die Ultra-Marathon-Szene ist Marhold Stück für Stück hineingewachsen. Mit Leichtathletik hatte er anfangs kaum etwas zu tun. Seine Liebe gehörte dem Ball. Für den BCF Wolfratshausen und die DJK Waldram spielte der gebürtige Fürstenfeldbrucker Fußball. Erst 1997 lief er seinen ersten Marathon, im Juli desselben Jahres nahm er am 60-Kilometer-Lauf im unterfränkischen Euerbach teil. Von Anfang an habe es ihn fasziniert, lange unterwegs zu sein und nicht zu wissen, ob er ankommen würde. Mit den Jahren wurden die Distanzen weiter, die Läufe mehr. Seit 2009 waren es um die zehn Ultra-Marathons jedes Jahr. 2011 allerdings nur vier, denn Marhold musste länger pausieren. Er hatte eine Cellulitis am Schienbein, eine bakterielle Entzündung der unteren Hautschichten, was unter Läufern häufiger vorkommt. Inzwischen hat er acht Mal den Sechs-Stunden-Lauf in Ottobrunn, sowie unter anderem die 24 Stunden von Basel zweimal und die von Turin einmal gewonnen.

Mit vielen Läufen verbindet Marhold manch besondere Erinnerung. "Die 100 Kilometer von Biel waren schon sehr abgedreht", sagt er. Teils liefen die Teilnehmer unter Vollmond durch die Nacht, dann sogar durch ein voll besetztes Bierzelt. "Der Wechsel ist bizarr." An einem besonders in der Nacht dunklen Streckenabschnitt, dem sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad, habe er stehen bleiben müssen, weil er keine Stirnlampe wie die erfahreneren Läufer dabei hatte. Da habe er eben auf einen mit entsprechender Leuchte gewartet. Beim Miau-Lauf über 100 Meilen von München nach Innsbruck - die Strecke führt über den Sylvensteinspeicher, Achensee und Jenbach - hat er im Dunklen eine Dreiviertelstunde nach dem Weg gesucht und in 17 Stunden und 40 Minuten trotzdem gewonnen. Zu den absoluten Highlights zählte der Spartathlon in Griechenland. Gestartet wird an der Akropolis in Athen. In höchstens 36 Stunden müssen es die Läufer bis nach Sparta schaffen. Bei seinen Reisen zu den Läufen ist Marhold auch an Kunst und Kultur in den Städten interessiert. Er bummelt dann durch die Stadt, schaut sich die Sehenswürdigkeiten an.

Zur Ultramarathon-Mannschaft des TSV Wolfratshausen gehören auch Detlev Gärtner und Michael Merkel, die Marhold schon aus Schulzeiten kennt. Merkel ist allerdings verletzt und kann nicht an der Deutschen Meisterschaft in Gotha teilnehmen. Marhold selbst weiß nicht, wie lange er noch wettbewerbsmäßig an Ultra-Marathons teilnehmen kann. Von einer Sache ist er allerdings überzeugt. Durch das Laufen lerne er Demut. Es fühle sich geerdet, weil er erfahre, dass er nicht immer der Chef sein könne, der alles im Griff habe. Nach der Devise "Ich kam, sah und siegte" gehe es nicht. "Man sollte dankbar sein, wenn man das machen kann und es nicht für selbstverständlich nehmen."

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Quelle:
SZ vom 29.08.2017
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