Politische Orientierung:Die Last der Jugend

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Jugendliche bei der Europawahl. (Foto: Toni Heigl)

Bei der Europawahl haben im Landkreis 16 Prozent der unter 25-Jährigen die AfD gewählt. Betreiber von Jugendzentren sind nicht überrascht. Sie warnen vor zu viel Konsum sozialer Medien und Verteilungsungleichheit.

Von Nina Pia Becker, Petra Schneider, Christina Lopinski, Bad Tölz-Wolfratshausen

Winston Churchill soll einst gesagt haben: Wer mit 20 nicht links wählt, hat kein Herz. Hätte der ehemalige britische Premierminister diese Europawahl verfolgt, er hätte seine Aussage wohl revidiert – oder einer ganzen Generation eine gewisse Herzlosigkeit attestiert. Denn anstatt Rot oder Grün sah es bei dieser Wahl des Europäischen Parlaments, die vor gut einem Monat stattfand, vor allem blau und schwarz aus. Auch bei den Jüngeren. Erstmalig durften auch Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben – und die wählten vor allem die Union (17 Prozent) und die AfD (16 Prozent). Aktuell schlüsselt das Bayerische Landesamt für Statistik die genaue Stimmverteilung nach Jahrgängen und Landkreisen auf, Ergebnisse werden im Herbst dieses Jahres erwartet.

Gleichwohl lohnt es sich, schon jetzt genauer hinzusehen, will man versuchen, die Jugendlichen zu verstehen. Haben sie aus Protest, aus Unwissenheit, oder sogar aus Überzeugung rechts gewählt? Und wie nehmen die 84 Prozent der jungen Menschen diese Entwicklung wahr, die ihre Stimme nicht der AfD gegeben haben?

Die Suche nach Antworten führt ins Jugendzentrum La Vida in Wolfratshausen. „Das Jugendzentrum ist ein Schutzraum“, erklärt der Einrichtungsleiter Max Aichbichler. Politische Aufklärungsarbeit stehe deshalb nicht im Fokus. Wenn Diskussionen aufkämen, dann sei das schön – anstoßen würden sie politischen Diskurs im La Vida nicht. Es gebe aber spezielle Projekte, die die Jugendlichen an die Politik heranführten. Der Arbeitskreis „Your Voice Your Choice“ habe zum Beispiel einen Videowettbewerb zur Europawahl ausgeschrieben, bei dem Jugendliche in 60 Sekunden ein Video zum Thema „Was juckt mich die EU“ erstellen durften. Das Ziel: Jugendliche machen Bildung für Jugendliche. Das Projekt sei indes nur halbherzig angenommen worden, berichtet Aichbichler. Dabei fehle gerade Jugendlichen in der Pubertät, einem Alter der Selbstfindung und Positionierung, die nötige Aufklärung. Natürlich entstünden bei mangelnder Information Dynamiken, die nicht unbedingt die politische Mitte abbilden würden. Wirklich rechts, so Aichbichler, könne man das nicht nennen. Die Tendenzen seien jedoch da, und auch die Gefahr, dass sie sich verfestigen.

Max Aichbichler leitet das Jugendhaus La Vida in Wolfratshausen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Woran liegt das? Zu wenig schulische Aufklärung, glaubt Laura Stojanovic. Sie ist seit ein paar Tagen 16 Jahre alt, „zum Glück erst nach der Europawahl geworden“, sagt sie, denn sie empfindet es als schwer, eine „richtige Wahlentscheidung zu treffen“. Stojanovic beschäftigt sich seit zwei Jahren aktiv mit Politik. Sie geht auf Demonstrationen gegen rechts und redet auch mit ihren Freundinnen über die politische Entwicklung in Europa. Sie erzählt vom Politikunterricht in der Schule. In ihrer Klasse hätten sie gemeinsam den Wahl-O-Mat gemacht und anschließend die Ergebnisse besprochen. Dass so viele junge Menschen rechts gewählt haben, hat die 16-Jährige nicht überrascht. In ihrem engen Umfeld bekomme sie nichts von einem Rechtsruck mit, aber in ihrer Klasse merke sie die Entwicklung deutlich. Sprüche wie „sei schlau, wähl blau“ seien keine Seltenheit. Früher war Stojanovic immer dafür, dass Jugendliche ab 16 Jahren politisch mitbestimmen dürfen. Inzwischen hat sie ihre Meinung aber geändert.

Dass junge Menschen politisch eher weniger informiert sind, beobachtet auch die Auszubildende Luisa Jähne. Auch für sie sei es schwierig, sich neben Arbeit und Privatleben noch mit Politik auseinanderzusetzen. Vor der Europawahl hat auch sie den Wahl-O-Mat gemacht und sich mit ihrer Familie über die Ergebnisse ausgetauscht. Dieser Austausch sei wegen Meinungsverschiedenheiten nicht so einfach gewesen, erzählt die 18-Jährige. Manchmal bereue sie es, am Essenstisch mit dem Thema anzufangen. Auch in ihrer Ausbildungsklasse habe es nach der Europawahl mehrere Konfliktsituationen gegeben. Jähne ist deshalb oft frustriert: „Ich möchte am liebsten in der ganzen Welt herumbrüllen: Was ist eigentlich los mit euch?“

Aichbichler beobachtet bei den Jugendlichen eine „generelle hohe Belastung“

„Eine generelle hohe Belastung“, sagt der Erzieher Aichbichler. Die beobachte er zunehmend seit der Corona-Pandemie. Die Jugendlichen müssten immer mehr „Erwachsenenkonflikte“ austragen – das Jugendhaus sei oft die erste Anlaufstelle. Neben dem Rechtsruck seien auch die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine Themen, die die Jugendlichen belasteten. Diese Beobachtung teilt Rudi Mühlhaus. Er ist Geschäftsführer der Jugendzentren „Ein-Stein“ und „Saftladen“ in Geretsried. Die meisten Jugendlichen, die zu ihnen kämen, hätten drängendere Probleme als Politik, sagt Mühlhans. Viele hätten einen migrantischen Hintergrund. Ihnen mache die Entwicklung, dass ausländerfeindliche Positionen scheinbar wieder salonfähig würden, besonders Angst.

„Wir nehmen in der Gesellschaft insgesamt wahr, dass Rechtsextremismus heutzutage eher subtil zutage tritt“, erklärt Mühlhaus. Da denkt man sofort an das Handyvideo vor dem Pony Club auf Sylt, auf dem junge Menschen zu dem Party-Hit von Gigi d’Agostino „Ausländer raus“ in die Kamera grölen. Oder eben an Maximilian Krah, der auf Tiktok erklärt, was „wirklich deutsch“, oder „wirklich männlich“ ist. Werden diese Inhalte im Saftladen weitergetragen? „Offen rechte Positionen werden eher selten geäußert und wenn doch, dann wird von den Mitarbeitenden angemessen darauf reagiert“, so der Sozialpädagoge Mühlhaus. Letztendlich sei den meisten Jugendlichen bewusst, dass sie es wären, die ausgewiesen oder abgeschoben würden, wenn rechte Parteien an die Macht kämen. In den Jugendzentren in Geretsried versuchten sie alles, um mit den beschränkten Mitteln, die sie nun mal haben, Politik zu besprechen und Demokratie zu leben.

Franz Späth ist Leiter der städtischen Sozialplanung in Bad Tölz. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Beschränkte Mittel und die hohe Belastung der Jugendlichen machen Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen nicht nur in Wolfratshausen und Geretsried zu schaffen. Auch in Bad Tölz geht es Jugendzentren und Jugendlichen ähnlich. Viele junge Menschen fühlten sich abgehängt, erzählt Franz Späth, kommunaler Sozialplaner der Stadt Bad Tölz. Ins Jugendcafé an der Hindenburgstraße kämen zurzeit eher Jüngere im Alter zwischen elf und 15 Jahren, die meisten aus Förder- oder Mittelschule und viele mit Migrationshintergrund. Wichtige Themen der Jugendlichen seien vor allem: „Wie integriere ich mich richtig? Wie komme ich in der Schule zurecht?“ Wohnsituation, Ausbildung und soziale Anerkennung seien außerdem zentral. „Wer mit seiner Familie zu sechst in einer kleinen Wohnung wohnt, mit Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen, der hat erst mal andere Sorgen als Politik.“ Der Einfluss der Eltern sei ohnehin groß, sagt Späth. Wenn diese signalisierten, dass es „bergab geht mit dem Wohlstand“, dann strahle das auch auf die Kinder ab. Oft höre er Sätze, wie: „Wo bleiben wir“? Oder: „Wir müssen erst mal auf uns schauen“.

Befeuert werde diese Einstellung von den sozialen Medien, in denen „alles vorgekaut wird“ und die AfD „brutal präsent“ sei, sagt Späth. Dass die Grünen bei den jungen Wählerinnen und Wählern so stark an Zuspruch verloren haben, führt Späth nicht zuletzt auf den Krieg in der Ukraine zurück, „der alles überlagert“. Auch bei Gymnasiasten haben seiner Beobachtung nach die Themen Klimaschutz und globale Erderwärmung an Priorität verloren. Dies hänge zum einen damit zusammen, dass die Jugendlichen mit dem Verlassen der Schule aus Gruppenstrukturen herauswüchsen. Und zum anderen mit einer gewissen Ernüchterung. „Wir können die Welt sowieso nicht retten“ – dieses Gefühl mache sich breit. Eine rechte Gesinnung lasse sich daraus aber nicht ableiten, so Späth.

Wie junge Menschen wählen, hängt also von vielen Dingen ab. Von ihrem häuslichen Umfeld, ihren Bezugspersonen, ihrer Peer-Group. Aber auch von ihrem Social-Media-Konsum und einer generellen Überlastung, die seit Corona deutlich zugenommen hat und durch die vielen globalen Krisen konstant verstärkt wird. Im Jugendzentrum La Vida in Wolfratshausen beobachtet Einrichtungsleiter Max Aichbichler, dass immer mehr Jugendliche eine Social-Media-Pause einlegen. Auch die Auszubildende Luisa Jähne macht das so. Jedes zweite Video in ihrem Feed, erzählt sie, würde den Gaza-Krieg behandeln. Das ist Jähnes Algorithmus. Bei anderen ist es die AfD, deren Videos immer und immer wieder angezeigt werden.

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:Denn sie wissen, was sie tun

Viele dachten, wenn die Jungen wählen, wird es nicht ganz so schlimm mit dem Rechtsruck. Jetzt wurde es mit ihnen noch schlimmer. Dann sollen sie mal erklären, warum man mit sechzehn oder vierundzwanzig die AfD wählt.

Von Elisa Schwarz, Josef Wirnshofer (Text) und Lorenz Mehrlich (Fotos)

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