Süddeutsche Zeitung

Eurasburg:Die vergessene Künstlerkommune

In einer Villa bei Happerg haben einst Musiker von Amon Düül und später Maler zusammen gewohnt. Der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg hat in einem Film dort das Lebensgefühl der 68er festgehalten

Von Benjamin Engel

Das Haus, in dem einst revolutionäre Formen des Zusammenlebens ausprobiert wurden, wirkt wie eine friedliche Landidylle. Im weitläufigen, von der Straße größtenteils uneinsehbaren Garten der Villa Ströhmel zwischen Berg und Happerg erregen nur die grasenden Pferde Aufmerksamkeit. Ganz anders war es vor etwa fünf Jahrzehnten: Damals liefen junge Bewohner der einstigen Musiker- und späteren Malerkommune nackig auf der Sunnseitn-Wiesn herum, wie sich bis heute ältere Einheimische erinnern. Mit Drogen haben sie wohl auch gerne experimentiert. Im Rausch soll ein junger Mann aus dem Fenster gesprungen sein, weil er glaubte, fliegen zu können.

Auf die Musiker um die Krautrockband Amon Düül folgte eine Malergruppe um Rudolph Distler, der heute am Chiemsee lebt. Mit dem Kosmos dieser "Happerger Kommunarden", wie die Gemeinschaft bezeichnet wurde, hat sich die Eurasburgerin Pia Fuhrmann intensiv beschäftigt. Thematisch passt das einstige Gemeinschaftsleben an diesem Ort perfekt zur aktuellen Ausstellung im nahe gelegenen Kloster Beuerberg. Unter dem Leitgedanken "Kommune 1121 - Visionen eines anderen Lebens" setzt sich die Schau damit auseinander, wie Formen des Zusammenlebens funktionieren, ge- aber auch misslingen können. Auf Spaziergängen führt Fuhrmann beispielhaft an der Villa Ströhmel vorbei. Der Spannungsbogen führt von psychedelischer Untergrundmusik bis zur Malerei-Strömung des Phantastischen Realismus. Fuhrmann gelingt es, bei ihren Führungen entsprechende Bildeindrücke vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

Im Garten des Hauses soll die Münchner 68er-Ikone Uschi Obermaier getrommelt haben. Sie hatte sich einst schwer in die Gruppe Amon Düül und deren Musik verliebt, wie sie in einem SZ-Interview vor einigen Jahren bekannte. Fuhrmann hat sich bei Obermaiers einstigem Weggefährten Rainer Langhans erkundigt, ob dieser sich an einen Besuch in Happerg erinnern könne. Ohne greifbares Ergebnis, wie sie berichtet.

Von der Stadt auf das Land hat es Ende der 1960er Jahre viele Kommunen gezogen. "Das war durchaus zeittypisch", sagt Fuhrmann. In Happerg verließen die Musiker schon bald wieder die wohl 1898 im Schweizerhaus-Stil erbaute Villa. Eine Künstler- und Malergruppe setzte das Kommunenleben fort. Zur Gruppe zählte neben Rudolph Distler etwa auch Daniel Friedemann - Sohn von Ernst Fuchs (1930-2015), dem Mitbegründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus.

Die miteingezogene Mutter eines der Künstlerkommunarden soll sich auch abseits der Kunst in imaginäre Welten begeben haben. "Zeitzeugen war sie als das Kräuterweiblein bekannt", sagt Fuhrmann. "Sie hat Haschisch-Plätzchen gebacken und soll von einem Trip nicht mehr heruntergekommen sein." Sie ist offenbar dann ständig mit dem Klapprad in der Gegend herumgefahren.

Leibhaftig zu sehen sind das sogenannte Kräuterweiblein und einige der damaligen Kommunenbewohner im Film "San Domingo" von Hans-Jürgen Syberberg. Warum? 1970 hat der originelle Regisseur, der als Chronist auch zeitgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland von der Familie Wagner über Ludwig II. bis zu Adolf Hitler nachgezeichnet hat - in der Villa Ströhmel auf dem 16-Millimeter-Format in Schwarz-Weiß fürs Kino gedreht.

Die Geschichte: Der aus einem wohlhabenden Elternhaus stammende Michi König entflieht seinem Herkunftsmilieu zu einer Rockerkommune auf dem oberbayerischen Land. Deren Mitglieder geben vor, ihn entführt zu haben, um an Geld zu kommen. Indem sie Mitbewohnerin Alice drängen, ihm näherzukommen, wollen sie Michis Vertrauen gewinnen - ein Film mit tragischem Liebesende inklusive und frei nach Heinrich von Kleists Novelle "Die Verlobung in St. Domingo". Darin setzt sich der deutsche Dramatiker mit dem haitianischen Sklavenaufstand auf der Karibikinsel Hispaniola gegen die französische Kolonialherrschaft um 1800 auseinander. Haiti wurde damals zum ersten von Kolonialherrschaft unabhängigen Staat in der Karibik.

"Wir versuchten etwas zu konstruieren, was im Kleistschen Sinne nach Aufruhr aussah", sagt Hans-Jürgen Syberberg mehr als fünf Jahrzehnte später über seine nach Oberbayern verlegte Stoffadaption. Vor dem Hintergrund der Aktionen der Roten Armee Fraktion (RAF) sei damals in Deutschland viel von Aufruhr gesprochen worden. Zur Happerger Kommune kam er über einen seiner damaligen Assistenten in Kontakt, sagt er. Dieser habe Leute gekannt, die dort wohnten. "Die waren eigentlich ganz friedlich", erinnert sich Syberberg. Rocker aus der Münchner Vorstadt und Mitglieder der Roten Zelle Germanistik (Rotzeg München) habe er dazu gecastet. In Happerg habe sich eine sehr bunte Szenerie gebildet, zu der eine Person wie das Kräuterweiblein gut gepasst habe.

Der Film gewinnt dadurch zeitdokumentarische Qualität. Die Rocker aus der Vorstadt - so heißt es im Vorspann - diskutieren mit den Mitgliedern der Rotzeg München über den Charakter gesellschaftlichen Widerstands zwischen gewalttätiger Aktion und symbolischen Aktivitäten. Während die einen mit Waffen hantieren und richtig loslegen wollen, betonen die intellektuellen Studenten, dass es eben nicht nur darum gehe, jemanden umzuschlagen, sondern dass es das Ziel sein müsse, die breite Öffentlichkeit zu beteiligen.

Wenn die Kamera - dafür gewann Christian Blackwood ebenso den deutschen Filmpreis wie Amon Düül II für die Musik - den Rockern auf ihren Maschinen über die Straßen folgt, blitzen für Einheimische vertraute Orts- und Landschaftsbilder auf - von der Kirche im Eurasburger Ortsteil Berg bis zur Anfahrt auf den Hügel hinauf nach Degerndorf.

Als der Münchner Geschäftsmann Ströhmel - mehr als den Nachnamen hat Fuhrmann nicht herausgefunden - Ende des 19. Jahrhunderts bei Happerg seine Villa baute, war diese Phase bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte noch weit entfernt. Er suchte wie so viele wirtschaftlich erfolgreichen Münchner seiner Zeit nach einem Refugium für die Sommerfrische. Zuflucht bot die Villa zwar auch für die Kommune etwa 70 Jahre später, deren Mitglieder Milch und Schmalznudeln aus einem Happerger Bauernhof zum Essen holten. Wenn allerdings unterschiedliche Lebenswelten und -weisen unvermittelt aufeinanderprallen, wird es naturgemäß spannend. Während sich manche der älteren Anwohner durchaus fasziniert an langhaarige Typen mit wechselnden Freundinnen und Polizeikontrollen wegen Drogen erinnern, würden die heutigen Besitzer der Villa diese Phase am liebsten vergessen. Sie sprechen nur von der einstigen Messie-Kommune. Womöglich macht auch das die wechselvolle Hausgeschichte so interessant.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5353849
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.07.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.