Süddeutsche Zeitung

Eurasburg:Das Leben nach der Kindheit im Heim

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Eine Fachtagung zum 35. Jubiläum des Inselhauses beschäftigt sich mit der Frage, wie junge Menschen den Schritt ins Erwachsenenleben schaffen

Von Ingrid Hügenell, Eurasburg

Michael Räß hat sein Leben gut im Griff. Er ist 28 Jahre alt, seit einem Jahr verheiratet und Besitzer einer Immobilie, die er von geerbtem Geld bezahlt hat. Er arbeitet bei einer Beuerberger Firma für Gartengestaltung. Dass er so gut zurecht kommt, ist nicht selbstverständlich. Denn Michael Räß hat große Teile seiner Kindheit und Jugend in der Obhut des Inselhauses verbracht - im Heim, wie er selbst sagt. Die in Eurasburg beheimatete Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe besteht seit 35 Jahren und hat ihr Jubiläum am Freitag mit einer Fachtagung begangen. Thema: Wie kann man junge Menschen ins Erwachsenenleben begleiten, die eigentlich aus der Jugendhilfe fallen, sobald sie 18 werden. Viele sind dann aber nicht soweit, dass sie diesen schwierigen Schritt alleine schaffen könnten.

Als Expertin sprach dazu Kristin Teuber, die Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts im SOS-Kinderdorf-Verein. Junge Menschen in der stationären Erziehungshilfe - also in einem Heim - hätten ungünstigere Startbedingungen und bildeten eine verletzliche Gruppe, sagte Teuber. Gleichzeitig erwarte man von ihnen, dass sie mit 18 "fertig" sein sollten - anders als von den meisten Jugendlichen, die in "normalen" Familien aufwüchsen. Häufig gebe es keine passenden Anschlusshilfen. "Es ist ein Trugschluss, dass die keine Hilfe mehr brauchen", sagte Teuber. Der Prozess des Selbstständigwerdens ziehe sich über mehrere Jahre hin.

Kurz bevor Michael Räß volljährig wurde, konnte er in eine eigene Wohnung in Wolfratshausen ziehen. Dort wurde er weiter von Mitarbeitern der Inselhaus gGmbH unterstützt, über die Einrichtung "Kaleidoskop". Dort lebte Räß, bis er seine Lehre als Straßenbauer abgeschlossen hatte. "Ohne das Inselhaus und Kaleidoskop wäre ich nicht da, wo ich heute bin", sagt er. Glücklicherweise übernahm der Landkreis Starnberg, aus dem Räß stammt, die Jugendhilfe-Kosten, bis der junge Mann 21 Jahre alt war.

Die Finanzierung der Maßnahmen fällt den Kommunen immer schwerer, wie in der Podiumsdiskussion klar wurde, die sich an den Vortrag anschloss. Unter der Moderation von Heiko Arndt sprachen der Stimmkreisabgeordnete Martin Bachhuber (CSU), Dritter Landrat Klaus Koch (Grüne), Angelika Schmidbauer, stellvertretende Geschäftsführerin der Inselhaus GmbH und Kristin Teuber. Zunächst berichtete jeder der Podiumsteilnehmer, was ihn in seiner Jugend für das Erwachsenen-Dasein gestärkt hatte. Gemeinsamer Nenner: Feste Strukturen und Verantwortung, etwa als Oberministrant oder im Fußballverein. Ebenfalls wichtig: offene Türen, die Möglichkeit, bei Schwierigkeiten in ein sicheres Umfeld zurückzukehren. Jungen Leuten, die im Heim aufgewachsen sind, diesen Rückhalt zu bieten, sei schwierig und finde derzeit hauptsächlich deshalb statt, weil die Mitarbeiter sich über den Abnabelungsprozess hinaus um ihre Schützlinge kümmerten.

So ist es bis heute bei Michael Räß: "Er findet bei mir immer offene Türen", sagt Brigitte Marinescu, eine Pädagogin des "Kaleidoskops", und auch zu Jan Ritter und Angelika Zeiss vom Inselhaus Kinderheim sei der Kontakt weiterhin gut. "Das Wichtigste im Leben ist für mich aber die Familie", sagt Räß - seine Frau und seine Geschwister.

Schwerer als für andere junge Leute im Heim sei das Erwachsenwerden für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, wie Teuber sagte. Sie hätten in aller Regel keinen familiären Rückhalt und bildeten zudem eine sehr heterogene Gruppe: Manche könnten, wenn sie in Deutschland angekommen seien, weder lesen noch schreiben. Andere seien gut gebildet und sprächen drei Sprachen.

Angelika Schmidbauer wies darauf hin, dass viele dieser Flüchtlinge nur kurz in den Einrichtungen seien, da sie häufig erst mit 16 oder 17 Jahren ankämen. "Sie haben eine Bildungslücke, eine Sprachlücke und wissen nicht, wie wir hier miteinander umgehen", erklärte sie. "Die fangen an, sich hier zu integrieren, dann werden sie 18 und müssen weg, und dann brechen alle Prozesse ab." Manche müssten mitten im Schulabschluss in eine Flüchtlingsunterkunft umziehen. Schmidbauer fordert, dass auch Flüchtlinge, die 18 werden, weiter betreut werden können: "Es ist nicht wichtig, woher jemand kommt, sondern was er braucht." Wenn die Integration nicht gelinge, kämen hohe Folgekosten auf die Gesellschaft zu. Das Inselhaus habe bereits mehrfach mithilfe von Spenden oder eigenen Mitteln Jugendlichen die weitere Betreuung ermöglicht.

"Wir werden aufgerieben zwischen den Ämtern", sagte Bruno Finck, der Leiter von Kaleidoskop, wo auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut werden. Es gebe keine Abstimmung der Behörden darüber, was am Ende der Jugendhilfe geschehen solle, und dabei sei zwischen 17 und 21 Jahren der Bedarf an Hilfe am größten. "Jeder Cent ist hier gut investiert", sagte Finck. "Wer eine Ausbildung abschließt und hier arbeitet, zahlt auch Steuern."

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SZ vom 04.06.2016
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