So schwer kann die deutsche Sprache sein: Ein Ohrwurm ist nicht wirklich ein wirbelloses kleines Tier im Gehörgang; mit einem Löwenzahn beißt nicht etwa der König der Wüste zu; und ein Zaunkönig hat keinen Thron auf einer Gartenumfriedung. „Fallen dir noch mehr solche Wörter ein?“, fragt Christiana Biron in einem Spiel, das sie selbst erfunden und mit 40 bemalten und beschriebenen Karten gestaltet hat. Die ganze Box in DIN-A 5 ist einer Frau gewidmet, die seit vielen Jahrzehnten in Israel lebt, die aber fünf Jahre ihrer Kindheit in Föhrenwald, dem heutigen Wolfratshauser Stadtteil Waldram, verbracht hat. Von jenem jüdischen Mädchen handelt „Esters Welt“, wie Biron das Spiel genannt hat.

Ester Müncz war drei, als sie zusammen mit ihren Eltern nach Föhrenwald kam. Beide, ihre Mutter und ihr Vater, waren von den Nazis in Ghettos in Ungarn und Österreich deportiert worden, hatten die Shoah überlebt und waren schließlich schwer krank und traumatisiert in Föhrenwald gelandet, dem großen Camp für jüdische Displaced Persons, heimatlose Nazi-Opfer.
Müncz, die heute 75 Jahre alt ist, habe ihr erzählt, dass sie ihre Kindheit nicht in allzu schöner Erinnerung habe, sagt Biron. Sie sei weitgehend auf sich allein gestellt gewesen. Und dennoch scheint Ester eine positive Einstellung zum Leben und zur Welt entwickelt zu haben. Sie liebt Kinder, hat als Kindergärtnerin gearbeitet und kann ihre eigenen Erinnerungen humorvoll schildern, obwohl sie von Ängsten berichtet, und anrührend, etwa wenn sie beschreibt, wie sie in der Schule zum Stillsitzen verdammt wurde und die Zeit nutzte, um den Tanz der Staubkörner zu beobachten. „Sie spricht so schön in Bildern“, sagt Biron, die Grafikdesignerin und Künstlerin ist, „so konnte ich sofort Bilder kreieren.“


Und das hat sie getan. Bilder von einem anmutigen Mädchen im blauen Kleid, von einer Großmutter mit Dutt, vom Kater Motschko, den Esters Familie in Föhrenwald hatte, von Blumen und Kerzen, aber auch von Feuer und eben vom „Ohr-Wurm“. Diese Zeichnung erinnert an eine Strafarbeit, die Ester einst schreiben musste. Sie, die wie alle Juden in Föhrenwald Jiddisch sprach, hatte einen Deutschlehrer, der „Juden überhaupt nicht mochte“. Nachdem sie an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nicht in die Schule gekommen war, ließ der Lehrer sie zur Strafe Wörter, die sie im Deutschen nicht gut konnte, zehnmal schreiben.
Die Karte, auf der Christiana Biron dies wiedergibt, ist außer mit Zeichnungen auch mit einer Erklärung des Begriffs „Jom Kippur“ versehen. Auf anderen Karten erklärt die Künstlerin kindgerecht Worte wie Synagoge, Kibbuz oder Pessah, aber auch den Nazi-Begriff SS.
Biron hat Ester durch ein Zoom-Meeting zum Thema Shoah kennengelernt, auf das sie durch einen Besuch des Erinnerungsorts Badehaus in Waldram aufmerksam geworden war. Schon das Badehaus, in dem sowohl die NS-Zeit mit den Rüstungsbetrieben im Wolfratshauser Forst als auch die Nachkriegsgeschichte mit dem DP-Camp beleuchtet wird, habe sie tief berührt, sagt Biron. Sie habe sich mehr als vier Stunden lang dort aufgehalten, und die Berichte der Shoah-Überlebenden hätten sie „hineingezogen“ in die Geschichte.
„Eine Empathie für Menschen mit Kriegserfahrung.“
Die Ammerlander Künstlerin Biron ist 47 Jahre alt und hat, wie sie sagt, „eine Empathie für Menschen mit Kriegserfahrung“. Sie hat sechs Jahre lang in Sarajevo gelebt und Kunstprojekte mitgestaltet, die den Krieg thematisierten. „Der Vater meiner Tochter war Soldat in diesem Krieg“, sagt sie.
Der jüdischen Zeitzeugin Ester hat sie sich offenbar spontan verbunden gefühlt. Die ersten beiden Telefonate, die sie miteinander führten, hätten sieben Stunden gedauert, berichtet sie lächelnd. Diesen beiden Gesprächen sollten noch viele Folgen; aktuell telefonierten sie etwa dreimal in der Woche miteinander, sagt Biron. Im Nachwort zu ihrer Karten-Box, die sie vorwiegend für Grundschulen empfiehlt, dankt Biron Ester, dass diese ihr ihre Lebensgeschichte anvertraut habe: „Aus meinem tiefen Respekt gegenüber ihrer besonderen Kindheit im DP-Camp Föhrenwald und ihrer inspirierenden Liebe für Kinder, Natur und Kunst ist Esters Welt entstanden.“
Ester, inzwischen Großmutter, warte sehnlich darauf, die Karten mit ihren Enkelkindern zu betrachten und sie Aufgaben erfüllen zu lassen wie das Ausmalen vorgegebener Silhouetten, das Beantworten von Fragen wie: „Spiele ohne zu reden deine Lieblingssportart anderen vor“ oder „welches ist dein Lieblingsbuch?“

Esters Vater starb, als sie neun Jahre alt, die Mutter, als sie 13 war. Sie lebte in einem jüdischen Kinderheim in der Schweiz, bis sie 21 war. Und erst dann konnte sie nach Israel, wohin es sie immer schon gezogen hatte. Am Eingang des Kibbuz, in den sie dort ging, stand eine große Föhre – für Ester eine Erinnerung an ihre Kindheit in Föhrenwald. Eine von Christiana Biron gemalte Föhre ziert denn auch das Deckblatt der Karten-Box „Esters Welt“.
Die Box kann für 20 Euro erworben werden per Mail an christiana@tiana-alexis.de. Mit dem Erlös hofft die Ammerlander Künstlerin die Druckkosten zu decken und ihrer jüdischen Freundin ein Flugticket nach Deutschland bezahlen zu können. Dann würde Ester Müncz zum ersten Mal auch wieder nach Föhrenwald kommen, wo der Erinnerungsort Badehaus heuer mit einem Festwochenende an die Gründung des DP-Camps vor 80 Jahren erinnert. Es soll ein großes Wiedersehen der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner werden. https://erinnerungsort-badehaus.de