Erinnerungen einer Bäuerin:"Mein Leben war schön"

Das Leben war schön - Lebenserinnerungen von Helena Spiegl

Tiere hatte Helena Spiegl immer gerne. Neben sieben Kühen hatten ihre Eltern auch zwei Pferde.

(Foto: Ambacher Verlag)

In ihrem Buch erzählt die 94-jährige Helena Spiegl aus Aufhofen von einer untergegangenen Lebenswelt zwischen Armut, Familie und Arbeit. Trotzdem hat ihr nie etwas gefehlt - und jung wäre sie auch nicht mehr gerne.

Von Benjamin Engel, Egling

Mit 94 Jahren ist das Leben von Helena Spiegl überschaubar geworden. Die Bäuerin geht praktisch kaum noch aus, nach Jahrzehnten harter Arbeit machen die Gelenke nicht mehr so mit wie früher. Zum Gehen stützt sie sich auf eine Krücke. In ihrem Zimmer im Bauernhof in Aufhofen steht der Tisch direkt neben dem Bett. Bekannte aus ihrer Altersgruppe leben kaum noch. An der einen Wand hängen alte Fotos. In der Ecke schräg gegenüber ist der Herrgottswinkel. Dazu kommen noch ein Schrank und der Fernseher - den schaltet Spiegl aber nur selten ein.

Ohnehin hat sich ihr Leben stets in engen geografischen Grenzen bewegt. Nur 1,5 Kilometer trennen sie von ihrem Geburtsort Öhnböck bei Thanning. Solange sie im Elternhaus wohnte, ging es über Ergertshausen, Sachsenkam, Wolfratshausen und Münsing kaum hinaus. Das Starnberger Seeufer sah sie damals nie. Und auch später blieb ihr Aktionsradius arg begrenzt. Zwei Mal stieg sie in ihrem Leben in ein Flugzeug, um zum französischen Wallfahrtsort Lourdes zu reisen. Das blieben ihre einzigen Auslandsreisen. Trotzdem sagt Spiegl voller Überzeugung: "Mein Leben war schön." Und jung sein möchte sie heute auch nicht mehr. Zu verrückt erscheint ihr die Welt mit all der Hektik, in der die Menschen kaum noch Zeit für persönliche Kontakte zu haben scheinen.

Was ihr Leben prägte, hat die Bäuerin mit Bettina Hecke vom Ambacher Verlag in mehreren, teils mehrstündigen Gesprächen aufgearbeitet. Daraus ist ein schmales Buch mit vielen historischen Fotos unter dem Titel "Das Leben war schön . . ." entstanden. In der Ich-Form erzählt die 94-Jährige mit fast schlichten und doch äußerst prägnanten Sätzen von einer untergegangenen Lebenswelt zwischen Armut, Familie und Arbeit. Etwas entbehrt zu haben, glaubt Spiegl trotzdem nicht. Dass die jungen Leute heutzutage anders als sie die ganze Welt bereisen, bedauert sie kaum. "Wir haben doch alles hier: Das Wasser, die Seen, die Berge, die Luft sind doch gleich schön als sonst auf der Welt."

Spiegl ist im Oktober 1921 in Öhnböck geboren - das gehörte damals noch zur Gemeinde Thanning. Sie war die Drittälteste von fünf Schwestern. Ihre Eltern Theres und Sebald Golkofer hatten sieben Kühe und zwei Rösser. Das reichte kaum zum Leben. Doch dank der Landwirtschaft mussten sie wenigstens nicht hungern, konnten sich mit Milch, Butter, Eiern oder auch Mehl selbst versorgen, wie Spiegl berichtet. Zusätzliche Einkünfte brachte der Verkauf von selbst hergestellter Zitronenlimonade. "Die Mutter hat den Saft gemacht. Meine Schwester Regina hat die Flaschen mit Kohlensäure aufgefüllt." Es sei anstrengend gewesen, die hölzernen Tragerl mit den gefüllten Falschen auf die Ladefläche des Pferdefuhrwerks zu wuchten. Damit lieferten sie die Limonade aus, zur Wirtschaft nach Aufhofen, ins Schullandheim nach Ergertshausen, bis Wolfratshausen und Münsing.

Seife gab es nicht

Spiegl hat sieben Jahre lang die Volksschule besucht. Danach wäre sie gerne Schneiderin geworden, durfte dies aber nicht. Sie werde daheim zum Arbeiten gebraucht, hieß es. "Das war ein bisschen bitter für mich." Trotz des Verbots habe sie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt, erzählt sie. Den Zusammenhalt in der Familie und unter Verwandten vermisst sie noch heute. Doch Zärtlichkeiten wie ein Bussi vor dem Schlafengehen oder Umarmungen habe es mit den Eltern nicht gegeben. "Man hat geschuftet und ums Überleben gekämpft, aber die Herzlichkeit, so wie es sie heute gibt, fehlte."

Spiegl hat ihr ganzes Leben lang körperlich geschuftet. Zum Spielen kam sie kaum. Von Kindheit an half sie auf dem Hof mit. Sie ging mit dem Vater zum Kartoffelklauben auf das Feld. Im Herbst mähte sie mit der Sense die Streuobstwiesen. Sie legte Mist auf und breitete ihn aus. Meistens war sie als Kind barfuß unterwegs. Ein Fahrrad hatten die Kinder nicht. Mit ihrer Schwester Regina - sie starb 1958 bei der Geburt ihres ersten Kindes - teilte sie sich ein Zimmer, bis sie verheiratet war. Da war sie schon fast 30 Jahre alt. "Ich war bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr zu Hause, ich habe nie einen Pfennig Geld bekommen." Höchstens zu Festen bekam sie mal etwas in die Hand gedrückt, erinnert sich die 94-Jährige. Davon kaufte sie sich einen Lebkuchen oder Obst.

Zu den Aufgaben von Spiegl gehörte es auch, die hofeigenen Gänse für den Verkauf vor Weihnachten zu schlachten und zu rupfen. Die waren gern am Bach neben dem Hof. Dort spülte ihre Mutter die Wäsche - und die Kinder wuschen sich darin im Sommer. Im Winter badeten sie im Waschzuber im Kuhstall. Ohne Seife, wie Spiegl schreibt. "Die gab es nicht."

Ausgehen durfte sie bis zum Alter von 18 Jahren nicht. Deshalb war es schwierig, Männer kennenzulernen. Viele von ihnen fielen zudem im Zweiten Weltkrieg. Einen Freund nach Hause mitzubringen, wäre undenkbar gewesen. Als sie den zehn Jahre älteren Valentin Spiegl 1950 heiratete, war sie 29 Jahre alt. Die harte Arbeit ging weiter. Wegen einer Kriegsverletzung konnte ihr Mann den einen Arm kaum mehr bewegen und deshalb nicht mehr als Maurer arbeiten. Sie zog auf seinen Hof nach Aufhofen. "Es war ein armseliges Anwesen, es gab kein Wasser, kein Licht." Dort lebten noch die Eltern ihres Mannes sowie drei ledige Geschwister des Vaters. Um überhaupt Platz zum Schlafen zu haben, musste das junge Ehepaar den Hof um einen Anbau erweitern. Mehr als vier Kühe und ein kleines Kalb gab es anfangs nicht. Später sollten es 14 Milchküche werden.

Die Welt ist für sie verrückt geworden

Mit dem ersten Traktor zog 1954 auch der technische Fortschritt in den Hof ein. Um Geld zu verdienen, verdingte sich Spiegl abends in Heimarbeit, fertigte kleine Figuren zum Spielen für Kinder an. Später fuhr sie mehr als 30 Jahre zum Putzen nach Straßlach. Mit ihrem Mann - er starb 1992 - bekam sie in den Fünfzigerjahren zwei Söhne. In ihrem Buch spart Spiegl auch Privatestes nicht aus: weder den Streit mit ihrem Älteren über die Hofübergabe, der zum Zerwürfnis führte, noch ihre schwere Krebserkrankung.

Kühe gibt es auf dem Hof in Aufhofen heute nicht mehr. Das zählt für Spiegl zu den größten Verlusten. Denn Tiere hat sie immer gern gehabt, wie sie sagt. Trotz aller Mühen blickt sie zufrieden auf ihr Leben. Gerne erinnert sie sich vor allem an ihre Jugend. "Es war eine schlimme Zeit, aber schöner, als es für die Jugend heute ist." Die Welt ist für sie verrückt geworden. Dass viele unentwegt Sport treiben oder andauernd auf ihre Handys starren, kann sie nicht verstehen.

Bis heute schöpft die 94-Jährige ihre Zuversicht aus ihrem Vertrauen auf Gott. Dieser feste Glaube war auch der Grund für ihre beiden einzigen Auslandreisen zum Wallfahrtsort Lourdes. Dass sie sonst nie irgendwas von der weiten Welt gesehen hat, bedauert die Bäuerin nicht. Eines findet sie allerdings schade: Wenn es ihr gesundheitlich besser ginge, dann wäre sie schon noch einmal gerne nach Lourdes gereist, bekennt sie.

"Das Leben war schön . . ." Lebenserinnerungen von Helena Spiegl, 60 Seiten, Ambacher Verlag, 15 Euro.

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