Süddeutsche Zeitung

Erinnerung an den Todeszug:"Das hat mir keine Ruhe gelassen"

2400 KZ-Häftlinge werden am 30. April 1945 bei Staltach befreit und nach Iffeldorf geschickt. Was ist in dem Ort geschehen? Diese Frage hält Hans-Gunther Hoche seit Jahren in Atem

Interview von Stephanie Schwaderer

Nur wenige Menschen wissen davon: Nicht nur in Seeshaupt, auch in Staltach bei Iffeldorf kam vor 70 Jahren ein Güterzug mit 2400 ausgehungerten KZ-Häftlingen zum Stehen. Am 30. April 1945 befreiten US-Soldaten die Überlebenden. Ein Großteil von ihnen wurde für acht Wochen in Iffeldorfer Häusern und Höfen zwangseinquartiert. Acht Wochen, über die Hans-Gunther Hoche mehr erfahren wollte.

SZ: Die Geschichte dieses Todeszuges ist so gut wie unbekannt. Was hat Sie auf die Spur gebracht?

Hans-Gunther Hoche: Als ich vor neun Jahren nach Iffeldorf gezogen bin, war immer wieder einmal von Judengräbern die Rede. Was mich stutzig gemacht hat: Jeder wusste ein bisschen etwas, aber keiner wusste Bescheid. Fest stand, dass 1945 hinter den Zuggleisen zwischen Staltach und Iffeldorf 17 KZ-Häftlinge begraben worden waren. Sie hatten keine Namen, das hat mir keine Ruhe gelassen. Wenn ein Mensch ohne Namen beerdigt wird, dann ist das, als hätte er nicht existiert. Ich wollte wissen, ob es tatsächlich aussichtslos wäre, etwas über die Toten herauszufinden.

Was haben Sie gemacht?

Etwas sehr Naheliegendes: Ich habe im Standesamt die Totenbücher eingesehen. Das Buch von 1945 sprang an einer Stelle auf, an der ein Blatt eingeklebt worden war, auf dem nur Nummern standen, die Häftlingsnummern, die den Gefangenen im KZ eintätowiert worden waren. Der Iffeldorfer Bürgermeister hatte sie 1945 notieren lassen, bevor französische Zwangsarbeiter die Leichen begruben. Über den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes konnte die Identität von zumindest sieben der Toten ermittelt werden. Mittlerweile sind alle auf dem Friedhof in Dachau bestattet.

Was haben Sie über den Todeszug herausgefunden?

Es war einer von vier Zügen, die in den letzten Kriegstagen arbeitsfähige KZ-Häftlinge, überwiegend Juden aus Ungarn, Rumänien, Polen und der Tschechoslowakei, ins Ötztal schaffen sollten. Dort sollten sie für die NS-Führung eine Alpenfestung bauen. Ein Stromausfall brachte den Zug zum Stehen. Zugleich rückten die amerikanischen Soldaten an. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens: Es waren 45 Waggons, Viehwagen, in die jeweils bis zu 60 Männer und Frauen gepfercht waren. In jedem gab es zwei Eimer: einen für Trinkwasser, und einen, der als Toilette diente. Seit der Verladung in Allach waren die 2400 Häftlinge mehr als acht Tage unterwegs gewesen.

Und diese 2400 ausgehungerten Menschen wurden von den Amerikanern nach Iffeldorf geschickt, in ein Dorf mit damals nicht einmal 1000 Einwohnern?

Ich schätze, dass es zwischen 1500 und 1700 Häftlinge waren. Viele im Zug waren so schwach, dass sie direkt nach Landsberg in ein Militärkrankenhaus gebracht wurden, viele starben kurz nach der Befreiung. Aber es waren damals definitiv mehr Häftlinge in Iffeldorf als Einheimische.

Sie haben vor acht Jahren mit Ihren Recherchen begonnen. Wie waren die Reaktionen im Dorf?

Sehr positiv. Eine Frau hat zu mir gesagt: Sie sind der Erste, der das wissen will. Alle Befragten haben sich Zeit genommen. 2011 habe ich erstmals Ergebnisse öffentlich vorgetragen. Daraufhin gab es in einem Online-Forum auch anonyme Schreiber, die monierten, warum man diese Geschichte nicht endlich ruhen lassen könne. Ich habe geantwortet: Geruht hat sie lange genug, höchste Zeit, dass wir sie erwecken! Tatsächlich gibt es aber nicht mehr viele Zeitzeugen, die sich erinnern könnten. In Iffeldorf habe ich nur acht Interviews führen können. Weitaus mehr Informationen habe ich von einstigen Häftlingen gesammelt.

Wie haben Sie diese kontaktiert?

In den USA hat praktisch jede Universität ein Holocaust-Archiv. Über die umfangreichste Dokumentation von Zeitzeugen-Berichten verfügt das Shoah Foundation Institute, das der Universität von Los Angeles angegliedert ist: 52 000 Video-Interviews sind dort verfügbar. 60 von ihnen sprangen auf die Suchworte Staltach oder Iffeldorf an. Die habe ich ausgewertet. Mittlerweile sind die meisten der ehemaligen Häftlinge gestorben. Aber mit einigen habe ich engen Kontakt. Und da gibt es bewegende Geschichten.

Erzählen Sie eine!

Shalom Stamberg, er lebt in Haifa, war 15, als er befreit wurde, und wog 35 Kilogramm. Seine Eltern und Geschwister waren in Auschwitz umgekommen. Den Weg nach Iffeldorf hätte er nicht mehr geschafft. Er fand in Staltach bei einem älteren Arbeiterehepaar Zuflucht, das selbst kaum etwas zu essen hatte. Aber die beiden haben ihn aufgepäppelt. Acht Wochen später kam er wie die anderen Überlebenden auch ins DP-Lager von Feldafing, wo es Dinge gab, von denen man im restlichen Europa nur träumen konnte: Fleisch, Kaffee, Schokolade. Er brachte einiges zur Seite und machte sich zu Fuß wieder auf den Weg nach Staltach. Er wollte seinen Gasteltern etwas Gutes tun.

Vortrag

Hans-Gunther Hoche, Jahrgang 1945, lebt seit neun Jahren im Iffeldorfer Ortsteil Steinbach. Der vielgereiste Luftverkehrsangestellte hat unter anderem vier Jahre in Brasilien, Uruguay und den USA verbracht. "Ich weiß, wie es ist, sich selbst in der Fremde fremd zu werden", sagt er. An diesem Donnerstag, 30. April, lädt er im Iffeldorfer Gemeindezentrum zu einem Vortrag über den Todeszug von Staltach ein. Beginn ist um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei. stsw

Ging es den Iffeldorfern damals schlecht?

Die meisten haben nicht gehungert. Sie hatten ihre Kartoffeläcker und Vieh, aber sie waren gebeutelt. Im Zuge der Wohnraumverdichtung mussten sie ausgebombte Städter unterbringen, dazu deutsche Soldaten und Zwangsarbeiter aus Russland, Jugoslawien und Frankreich. Kurz vor Kriegsende kam ein ganzer Zug mit schlesischen Flüchtlingen in Iffeldorf an und schließlich die KZ-Häftlinge. Die Amerikaner, die eigentlich den Auftrag hatten, ins Inntal vorzustoßen, waren mit der Situation ebenfalls überfordert. Es war ja noch Krieg. Den Häftlingen haben sie gesagt: Geht und nehmt euch, was ihr braucht. Und den Anwohnern links und rechts der Hofmark erteilten sie den Befehl, innerhalb einer halben Stunde ihre Häuser zu räumen.

Wie viele Häuser waren das?

Vielleicht ein gutes Dutzend. Im Hof der Familie Seidenschwand, das hat mir die alte Bäuerin erzählt, wurden 200 Häftlinge einquartiert. Alle waren krank, alle hatten Durchfall, und es gab nur eine Toilette. Einige sind an Typhus gestorben. In einer Scheune haben die US-Soldaten eine Feldküche eingerichtet. Aber jeden Tag Essen für knapp 2000 Leute zu beschaffen - das war Chaos. Nach acht Wochen war der Spuk vorbei. Alle Iffeldorfer konnten in ihre Häuser zurückkehren, die in einem erbärmlichen Zustand waren.

Gibt es im Dorf eine Gedenkstätte?

Nein, nichts. Die Gemeinde hat sich stets bedeckt gehalten mit der Erinnerung an diese Vorfälle, obwohl es dafür ja gar keinen Grund gibt. Der Holocaust war ja keine Erfindung der Iffeldorfer. Es gibt ein wuchtiges Kriegerdenkmal, das an die Toten erinnert, die fürs Vaterland gestorben sind, aber kein Denkmal für jene, die durchs Vaterland gestorben sind.

Sie sind 69 Jahre und könnten Ihren Ruhestand an den Osterseen auch anders verbringen. Was treibt Sie zu dieser Recherche?

Ich bin ein neugieriger Mensch. Und aus einer Antwort haben sich bei dieser Geschichte immer zwei neue Fragen ergeben. Es gibt in den Erzählungen viele Widersprüche. Meine Richtschnur war immer die Frage: Wie hätte ich reagiert? Als Hausbesitzer an der Hofmark, wenn ich mein Haus hätte räumen müssen. Und als Häftling, dem alles genommen wurde: die Familie, die Heimat, die Zukunft. Ich möchte niemandem Schuld zuweisen. Aber ein KZ-Überlebender hat erzählt, was schlimm für ihn war: Dass ihm keiner in Iffeldorf in die Augen geschaut hat.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2015
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