Nach dem Erdbeben in Vorderasien:"Die Schicksale sind so viel näher"

Nach dem Erdbeben in Vorderasien: Nach der Flucht aus ihren Häusern mussten viele Erdbebenopfer die Nacht im Freien verbringen (hier in der ostanatolischen Stadt Gaziantep).

Nach der Flucht aus ihren Häusern mussten viele Erdbebenopfer die Nacht im Freien verbringen (hier in der ostanatolischen Stadt Gaziantep).

(Foto: Privat/oh)

Flüchtlingsbetreuerin Ines Lobenstein ruft zu Spenden für Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei auf. Eine Wolfratshauser Syrerin berichtet von ihrer Familie.

Von Felicitas Amler, Wolfratshausen

Aziza hat sehr viel Grund, sich Sorgen zu machen. "Meine Familie ist groß", sagt die 29-jährige Syrerin. Und alle - allein elf Geschwister, dazu Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins - sind vom Erdbeben in Vorderasien betroffen; manche in Syrien, andere in der Türkei. Aziza selbst lebt mit ihrem Ehemann und zwei kleinen Kindern im Alter von acht Monaten und fünf Jahren in Wolfratshausen. Nachdem sie und ihr Mann vor acht Jahren gekommen waren, haben sie sich integriert, haben inzwischen Arbeit und eine eigene Wohnung. Die Familienmitglieder im Erdbebengebiet aber, so erzählt Aziza, hätten ihre Wohnungen verlassen müssen und versuchten nun, bei Bekannten oder in Lagern unterzukommen: "Möglichst in kleinen Dörfern, weg von den großen Gebäuden." Es sei kalt, nachts habe es geregnet, so habe sie in Telefonaten erfahren. Nicht immer aber seien die Verwandten übers Handy zu erreichen, dann seien die Sorgen besonders schlimm, sagt die junge Frau.

Nach dem Erdbeben in Vorderasien: Die Bilder der Verwüstung wie hier in Gaziantep verbreiten sich unter den hier lebenden syrischen Familien rasant. Die Sorgen sind allenthalben groß.

Die Bilder der Verwüstung wie hier in Gaziantep verbreiten sich unter den hier lebenden syrischen Familien rasant. Die Sorgen sind allenthalben groß.

(Foto: Privat/oh)

Allein in der Stadt Wolfratshausen leben nach Auskunft von Obdachlosen- und Flüchtlingsbetreuerin Ines Lobenstein mehr als achtzig syrische Flüchtlinge. Von einigen weiß sie bereits, dass deren Familien unter dem Erdbeben zu leiden haben. Um ihnen zu helfen, will Lobenstein Geld sammeln, um es direkt nach Syrien zu überweisen. Die Menschen könnten davon Essen kaufen oder Kleidung und Fahrzeuge bezahlen, um sich an sichere Orte zu begeben, meint Lobenstein. Sie sieht darin auch eine Geste der Dankbarkeit. "Die Syrer haben hier gestanden, als der Krieg in der Ukraine begann, und haben gesagt, wir wollen mithelfen", berichtet sie. Nun seien sie es, die Hilfe brauchten.

Nach dem Erdbeben in Vorderasien: Die schwangere Schwester einer in Wolfratshausen lebenden Syrerin musste die Nacht zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Kind im Wald verbringen.

Die schwangere Schwester einer in Wolfratshausen lebenden Syrerin musste die Nacht zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Kind im Wald verbringen.

(Foto: Privat/oh)

Natürlich könne man auch an die "Aktion Deutschland hilft" spenden, so Lobenstein. "Aber es ist doch immer etwas anderes, wenn man jemanden kennt. Und wir sind hier mit vielen Syrern seit langem bekannt oder befreundet." Besonders Azizas Familie kennt sie gut. So kann sie auch berichten, was Aziza selbst der SZ gar nicht so konkret erzählt hat: dass deren 19-jährige Schwester, schwanger und mit kleinem Kind, und ihr Mann die Nacht wegen des Erdbebens in einem Wald verbringen mussten. Lobenstein sagt, noch vor einigen Jahren seien solche Schicksale wie die der Erdbebenopfer weit weg gewesen. Aber nun, da sie durch die Flüchtlingsarbeit Menschen aus so vielen Ländern kenne, sei "die Welt so viel kleiner geworden" und die Schicksale seien so viel näher.

Nach dem Erdbeben in Vorderasien: Lachende Gesichter sind die Erinnerung an den Besuch, den Aziza ihrer syrischen Familie nach acht Jahren vor Kurzem erstmals abstatten konnte.

Lachende Gesichter sind die Erinnerung an den Besuch, den Aziza ihrer syrischen Familie nach acht Jahren vor Kurzem erstmals abstatten konnte.

(Foto: Privat/oh)

So wie das Schicksal der Familie einer anderen jungen Syrerin in Wolfratshausen, die aber nicht namentlich genannt werden möchte. Ihre Tante und deren Tochter, so erzählt sie, seien wahrscheinlich immer noch "auf der Straße". Sie könne es nur vermuten, da der Telefonkontakt abgebrochen sei: "Sie kann ihr Handy ja nicht aufladen." Am Montag habe die Tante erzählt, dass das Erdbeben sie aus dem Tiefschlaf gerissen habe: "Es hat so gekracht." Barfuß seien Tante und Cousine aus dem Haus gelaufen und hätten sich im Auto in Sicherheit gebracht. Es sei erschütternd, sagt die junge Frau. "Eine Katastrophe. Alles ist zerstört, die Wohnung total kaputt." Gleichzeitig beruhigt sie sich selbst: "Hauptsache, sie leben noch." Auch wenn sie psychisch bestimmt äußerst mitgenommen seien.

Aziza sagt auf die Frage, ob Familienmitglieder durchs Erbeben verletzt worden seien: "Gottseidank nein!" Und bisher kann auch Lobenstein das über die anderen Familien, von denen sie weiß, sagen. "Aber viele mussten die Nacht im Freien verbringen. Und sie trauen sich nicht in ihre Häuser, da man nicht weiß, ob es zu Nachbeben kommt." Gründe genug jedenfalls, um zu helfen, so findet die Flüchtlingsbetreuerin.

Aus dem Landratsamt ist zu erfahren, dass sich derzeit 461 Syrerinnen und Syrer (davon 49 Personen noch im Asylverfahren) im Landkreis aufhalten und 1143 türkische Bürgerinnen und Bürger hier leben.

Wer Geld spenden möchte, kann sich mit Ines Lobenstein direkt in Verbindung setzen (am besten über WhatsApp), 01525/4543355.

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