Ein Visionär geht in den Ruhestand:"Das Wichtigste ist stabile Geborgenheit"

Ein Visionär geht in den Ruhestand: Rolf Merten vor dem Inselhaus im Eurasburger Ortsteil Lengenwies.

Rolf Merten vor dem Inselhaus im Eurasburger Ortsteil Lengenwies.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Rolf Merten, der Gründer des Inselhauses, verabschiedet sich nach 35 Jahren. Im Interview erläutert er, warum er die Kinder- und Jugendhilfe ändern wollte, wie er das erreicht hat und weshalb eine weitere Humanisierung notwendig ist.

Von Felicitas Amler, Eurasburg

Die Einladung zeigt zwei Fotos: einen jungen Mann in Schwarz-Weiß und einen älteren in Farbe. Auf beiden dasselbe freundliche Lächeln, dieselben fröhlichen Augen. Darüber der Titel: "Ein Visionär wird verabschiedet". Das "Inselhaus" in Eurasburg sagt ade zu seinem Mitgründer Rolf Merten und feiert das an diesem Freitag groß. Der 65 Jahre alte Geschäftsführer blickt zurück auf 35 Jahre Kinder- und Jugendhilfe; auf eine Initiative, die er mit der 1996 gestorbenen Dörte Sambraus erdacht und vorangebracht hat. Das Inselhaus ist heute die wichtigste Einrichtung dieser Art im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen.

SZ: Herr Merten, was haben Sie von Kindern und Jugendlichen im Inselhaus gelernt?

Rolf Merten: (denkt lange nach) Schwierig...

Drehen wir die Frage um: Was haben Kinder und Jugendliche von Ihnen gelernt?

Ich bin, glaube ich, eine verlässliche Größe. Ich gehe ja mit meiner Thematik - ich bin Legastheniker - recht frei um, und ich glaube, darüber konnte ich oft ermutigen, dass was aus einem werden kann. Ich denke auch, dass ich als stabiler Faktor da war.

Ist das in der Kindererziehung - egal ob in der Familie oder einem Heim - das Wichtigste: Stabilität?

Ich glaube, das Wichtigste ist tatsächlich, stabile Geborgenheit zu bieten. Und die Eigenständigkeit der Kinder zu akzeptieren. Der Respekt. Also dass man nicht etwas aus Kindern machen will. Natürlich braucht es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Anpassung, aber das kann man auf zweierlei Wegen machen. Man kann das von außen fordern, was oft auch durch Schule und Leistungsdruck passiert. Oder man kann gucken: Wo sind wirklich die Begabungen, von innen: Wo möchten die Kinder hin? Und sie da in ihrer Selbstwertentwicklung zu stützen. Dafür brauchen sie natürlich ein stabiles Umfeld. Das ist das eine. Das Zweite ist: Die Kinder, mit denen wir zu tun haben, kommen oft aus Elternhäusern in prekären Situationen. Die große Gefahr ist da, in eine Konkurrenzsituation zu kommen.

Was meinen Sie mit prekär?

Wenn man deutlich merkt, dass ein Kind zu Hause vernachlässigt wird. Oder sogar Alkohol oder Drogen im Hintergrund eine Rolle spielen. Wenn sich dann die Zusammenarbeit mit diesen Eltern als schwierig erweist, sind die Eltern trotzdem ein Teil des Kindes. Deshalb ist es für das Kind unheimlich wichtig, dass man da viel Respekt hat. Weil man sonst in dem Kind diesen Bruch herbeiführt.

Wenn Sie an Ihre eigene Kindheit denken: Woran erinnern Sie sich besonders gern?

An die Zeiten bei meiner Großmutter in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, wo ich mich unglaublich frei bewegen konnte. Ich glaube, ich war ein sehr eigenständiges Kind. Ich habe Fußball gespielt und war schon als kleiner Knirps mit U- und S-Bahnen unterwegs.

Weil Ihre Eltern gearbeitet haben?

Ja. Oder weil sie mich am Wochenende allein zum Fußball haben fahren lassen. Ich habe durchaus ein bürgerlich geborgenes Elternhaus gehabt. Meine Muter, die erst später gearbeitet hat, war für uns da. Ich denke, ich habe viel innere Kraft in der frühen Kindheit gekriegt.

Wodurch bekommt ein Kind diese Kraft?

Durch das, was man heute als gute Bindung bezeichnet. Wenn Kinder wirklich spüren, dass sie in ihren Bedürfnissen erkannt und wahrgenommen werden. Und wenn die Mütter - aber das würde ich jetzt nur als Symbol meinen für die erste Person -, wirklich ganz da sind, sich empathisch einfühlen können in die Kinder. Dann erleben sie nicht so viele Frusterlebnisse in der frühen Zeit, sondern fühlen sich erkannt und verstanden. Eine sichere Bindung ist das zentrale Thema.

Wann ist es für ein Kind besser, aus der Familie herausgenommen und in einem Heim untergebracht zu werden?

Ich denke, wenn Familien wirklich überfordert sind. Wenn das tägliche Leben nur aus Konflikten besteht. Oder wenn die Grundversorgung überhaupt nicht mehr gewährleistet ist - dann muss man sich Gedanken machen. Wenn ein nachhaltiger Schutz in der Familie nicht mehr möglich ist und ein durchgängiges Klima von Konflikten oder Vernachlässigung herrscht, dann ist eine Fremdunterbringung angesagt. Wobei ich schon meine, dass eine Unterbringung in einer professionellen Familie durchaus Heimstrukturen vorzuziehen ist. Wir haben gute Einrichtungen, das möchte ich unterstreichen, und unsere Mitarbeiter leisten eine wirklich engagierte und tolle Arbeit. Und doch ist es ein Unterschied, ob man in einem Schichtdienst-Bereich mit wechselnden Personen groß wird, oder ob man in der Prägung einer Familie aufwächst.

Was bedeutet "professionelle Familie"?

Damit will ich ausdrücken, dass das Menschen sein müssen, die sehr reflektiert sind, mit solchen unterschiedlichen Systemen sehr gut umgehen können und die selbst eine optimale Unterstützung und Begleitung haben. Supervision, Freizeiten, wo sie sich auch mal zurückziehen können.

Das Inselhaus existiert seit 35 Jahren. Was hat sich für die Kinder am deutlichsten verändert?

Jochen ist einer aus der ersten Generation, zu dem wir noch Kontakt haben, und der hat einen sehr lebendigen und spontanen Rahmen vorgefunden, aber einen Haufen engagiertester Menschen. Das war so die erste Zeit. Wir waren im Aufbruch, wir wollten das unbedingt. Und das haben die Kinder, glaube ich, sehr stark gespürt, und davon schwärmen sie noch heute. Wir haben ja auch dort gelebt, mit den Kindern zusammen.

Wie viele waren Sie zu Beginn?

Dörte Sambraus war überwiegend da, Susanne Czaja (heute Ahrens), Barbara Vorsteher und ich haben mit im Haus gelebt. Dann gab es andere Mitarbeiter. An erster Stelle ist da Jan Ritter zu nennen, der war viele Jahre, später dann auch alleine mit im Haus. Es haben immer Leute dort mit gelebt, das hat sich dann geändert.

Warum?

Nun, mitten in einer Gruppe von neun Heimkindern zu leben ist eine große Herausforderung und auch Anstrengung. Da ist die Gefahr groß auszubrennen. Das können die meisten Menschen nur über eine gewisse Zeit leben. Bedauerlicherweise haben wir keine Menschen mehr gefunden, die bereit waren, so zu leben. Als Alternative haben wir dann Familien gesucht, die ein oder zwei dieser Kinder in ihre Familie integriert haben. Das zu leben bleibt zwar noch immer eine Herausforderung, ist jedoch leichter zu leben.

Was hat sich sozialpädagogisch verändert?

Damals haben wir Dinge ausprobiert. Die Kinder hatten größere Freiräume. Von Anfang an hatten wir Tiere. Die Kinder konnten einen Pferdeführerschein machen und dann alleine reiten. Wir haben große Teile unseres normalen Lebens mit den Kindern geteilt, haben abenteuerliche Urlaubsfahrten auf Campingplätze unternommen etc.

Sie sprachen von Kindern der ersten Inselhaus-Generation, zu denen es noch Kontakte gibt. Was ist aus ihnen geworden?

Jochen ist das Paradebeispiel, er ist heute Unternehmer. Der war um die zehn, als er ins Inselhaus kam. Er lebte bei einer Tante, es gab keine Mutter, die sich gekümmert hätte, der Vater war Fernfahrer, der dann in der Zeit, als Jochen bei uns war, bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Der Junge war hyperaktiv und kam nirgends klar. Dem hatte man damals mehrere Heime gezeigt, und er hat gesagt: Da will er hin.

Was war für ihn ausschlaggebend?

Ich denke, dieses Gelände. Das war so einer, der war immer draußen. Der ist in den Habichtgraben gegangen und kam ohne irgendwas mit einer Forelle in der Hand wieder. Der wusste genau, wo die stehen, hat reingegriffen und hatte sie.

Was hat das Inselhaus ihm geboten, was ihm eine gute Zukunft ermöglicht hat?

Wir haben geguckt, was wollen die Kinder. Wir sind stark auf die Wünsche der Kinder eingegangen. Das hat uns, glaube ich, immer schon ausgezeichnet.

Er hat Geborgenheit erlebt?

Geborgenheit, Sicherheit. Er hatte eine enge Beziehung zu Susanne Ahrens, einer der Mitbegründerinnen. Und er hatte im Inselhaus auch einen Freund gefunden, die beiden waren wie Brüder und ganz viel unterwegs.

Waren es überhaupt mehr Jungs?

Nein. Katja etwa, sie hatte eine Mutter mit psychiatrischem Hintergrund, auch der Bruder war betroffen. Da hatten wir immer Sorge, ob es bei ihr auch da ist, weil sie manchmal so Absencen hatte. Aber sie hat sich stabilisiert. Sie ist vor einigen Jahren mit ihrem Mann und drei kleinen Jungs nach Kanada ausgewandert. Ich habe sie dort besucht, die erfüllen sich dort einen Lebenstraum. Also, da ist auch Mut.

Bei Ihrer Gründung hatten Sie das Ziel einer "Humanisierung des Erziehungswesens". Was war damals inhuman?

Im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung war sichtbar geworden, was in den Heimen, in diesen autoritären Strukturen, schief lief. Die Journalistin Ulrike Meinhof hat sich ja ganz stark empört und radikalisiert über die Zustände in Heimen. Da gibt es das Buch und den Film "Bambule", der dann nicht ausgestrahlt wurde, weil sie inzwischen zur Fahndung ausgeschrieben war. Das, was man heute offen diskutieren kann, das war Ende der Sechzigerjahre ein Thema, aber es war noch nicht gesellschaftsfähig. Daraus entwickelte sich Anfang der Siebzigerjahre die sogenannte Heimkampagne, wo Jugendliche aus Heimen wegliefen und eine Bleibe oft bei studentischen Wohngemeinschaften hatten. Daraus entstanden Formen von Jugend-Wohngemeinschaften. Übrigens alles ohne dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz es damals vorgesehen hätte, das kam erst viel später. Und dann entwickelten sich sogenannte Kleinstheime, wo man familienähnlich mit Kindern lebte. Und im Grunde sind wir noch ein Kind dieser Bewegung. Wir waren der Meinung, dass man anders, humaner, menschlicher, als das in der Nachkriegszeit der Fall war, mit Kindern umgehen sollte.

Da hat sich viel verändert und verbessert?

Ja, da hat sich viel verbessert. Aber ich meine, dass eine Humanisierung heute weiterhin notwendig ist.

Woran mangelt es heute?

Humanisierung ist in jeder Zeit wichtig. Heute zum Beispiel im Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen. Außerdem sind wir in einer unglaublichen Gefahr, dass alle Bereiche durch ökonomische Rahmenbedingungen erschlagen werden.

Wann hat sich das dahin entwickelt?

Das würde ich gesamtgesellschaftlich sehen. Das ist die Folge der neoliberale Politik, die in den Achtzigerjahren losging in den USA und in England und die mehr und mehr weltweit Raum gegriffen hat. Heute steht einfach Ökonomie an vorderster Stelle.

Wie äußert sich das konkret?

Am besten kann man es deutlich machen in der Altenarbeit: Pflege nach Minutentakt.

Aber Sie spüren es auch in Ihrer Arbeit?

Ja, Stichwort Wirksamkeitsorientierung. Das Bemühen, die Jugendhilfe unter wirtschaftlichen und auch einseitig unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Wenn man das tut, kommt man sehr schnell auf rationalistische Vereinfachungen und möchte Kausalitäten herstellen. Da kommt ganz schnell das Ökonomische: Was ist das Wirksamste? Dann werden Standardisierungen geschaffen. Stellen Sie sich mal vor, man würde einer Familie vorschreiben, sie muss so und so leben. Hier passiert so was tendenziell.

Welche Instanz gibt Ihnen das vor?

Das ist der Zeitgeist. Natürlich müssen die Jugendämter, die viel Geld in diesem Bereich ausgeben, Kriterien schaffen. Und das ist wie ein fließendes Gift, das immer mehr Besitz ergreift. Ich meine, da gilt es gegenzusteuern.

Gelingt das dem Inselhaus?

Also, wir schauen, dass wir einen menschlichen Umgang im Inneren möglichst aufrecht erhalten. Wir argumentieren im Kontakt mit Jugendhilfe-Trägern für das, was uns wichtig ist. Aber wir sind natürlich zugleich immer wieder auch diesem Druck ausgesetzt. Auch dass vorgegeben wird, das und das muss in der und der Zeit erreicht werden. Und das ist aus unserer Sicht vielfach so nicht möglich. Da glauben wir, dass eben heute eine Gefahr besteht für einen humanen Umgang mit den Kindern.

Hat die Eingangsfrage, was Sie von Kindern im Inselhaus gelernt haben, während noch in Ihnen gearbeitet?

Die ganze Zeit. Ich würde sagen: die Vielfalt. Und wie sie zum Teil mit ihren schweren Lebensbedingungen umgehen. Was da trotz aller Problematik doch immer wieder an Kraft, an Kreativität ist. Und wie die meisten ihren Weg ins Leben gefunden haben.

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