Ein Gespräch mit dem Jazzer, Komponisten und Dirigenten:"Wir alle sind einsam wie die Fliege im Netz"

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„Ein surrealer Lebenstraum“: Gregor Mayrhofer (rechts) hat die Filmmusik zu „Jim Knopf und die Wilde 13 “ eindirigiert. Danach hat er mit dem Komponisten Ralf Wengenmayr (links) eine Runde am Klavier gejammt. (Foto: Privat)

Der junge Dirigent Gregor Mayrhofer aus Wolfratshausen arbeitet mit Größen wie Sir Simon Rattle, Kirill Petrenko oder Teodor Currentzis. Seine bislang härteste Lehrmeisterin ist die Corona-Krise

Von Stephanie Schwaderer

Zehn Jahre ist es her, dass zwei sympathische Brüder aus Wolfratshausen als Jazzduo Imbrothersation einen Tassilo-Hauptpreis der SZ abräumten. Mittlerweile arbeitet Raphael Mayrhofer als Musiklehrer in Dachau, während Gregor Mayrhofer die Juillard School in New York absolviert und eine Karriere als Dirigent und Komponist eingeschlagen hat. An diesem Donnerstag stehen beide wieder einmal als Duo auf der Bühne.

SZ: Herr Mayrhofer, Sie haben sich mittlerweile daran gewöhnt, mit weltbekannten Sinfonierochestern aufzutreten. Nun also wieder Nasenflöte in der Loisachhalle. Wie schaffen Sie diesen Spagat?

Gregor Mayrhofer: Die Nasenflöte kommt diesmal nicht zum Einsatz. Für mich ist es ein Glück, mit meinem Bruder ein ganz improvisiertes Konzert zu geben. Die Zeiten sind für uns Künstler nicht leicht, aber fördern auch die Kreativität. Allerdings könnte ich auf Dauer nicht mehr ohne ein Orchester leben. Dass viele Menschen zusammenkommen und nicht versuchen, sich gegenseitig auszustechen, sondern gemeinsam Musik erschaffen, halte ich für eine der größten Errungenschaften, die unsere Kultur hervorgebracht hat.

Die Corona-Zahlen steigen, den Leuten wird geraten, zu Hause zu bleiben. Haben Sie Angst, vor leeren Reihen zu spielen?

Ich würde auch vor fünf Gästen spielen. Aber es ist schon absurd, welch strenge Regeln dem Kulturbetrieb auferlegt werden, während sich die Leute in Regionalzüge quetschen oder im Flugzeug dicht an dicht sitzen. Im Konzertsaal sind sie tausendmal sicherer. Für gefährlich halte ich vor allem die Relevanz-Diskussion.

Warum ist Kultur relevant?

Weil sie uns zu Menschen macht. Stellen Sie sich Ihre Wohnung ohne Bücher, ohne Bilder, ohne CDs vor: Was würde übrig bleiben? In den USA kann man beobachten, was passiert, wenn man Kultur über Jahre nur als Luxus betrachtet. Das rächt sich. Dass dort gerade die Gesellschaft zusammenbricht, ist kein Zufall.

Wie haben Sie das vergangene halbe Jahr verbracht?

Ich war die meiste Zeit in Berlin und habe Tag und Nacht komponiert. Im Februar endete meine Zeit als Assistent bei den Berliner Philharmonikern. Nun bin ich auf dem Sprung ins freischaffende Berufsleben. Nicht ganz einfach in diesen Zeiten, aber ich muss mich glücklich schätzen, ein paar tolle Projekte machen zu können.

Zum Beispiel die Filmmusik zu "Jim Knopf und die Wilde 13" eindirigieren.

Ein ganz toller Zufall! Seit meiner Kindheit bin ich Jim-Knopf-Fan. Mit der Familie haben wir einmal sogar einen Jim-Knopf-Fasching gemacht, ich war Jim und mein großer Bruder war Lukas. Mit 14 bewunderte ich dann einen Komponisten ganz besonders: Ralf Wengenmayr. Ich hab seine Filmmusik zu "Der Schuh des Manitu" rauf und runter gehört. Damals wollte ich auch Filmkomponist werden. Immer wieder habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, diesen Menschen einmal zu treffen.

Und wie war es?

Unglaublich toll. Nach den Aufnahmen mit dem Babelsberger Filmorchester haben wir beide zusammen am Klavier gejammt. Ein surrealer Lebenstraum.

Wo haben Sie sich kennengelernt?

Bei einem Konzert des Münchner Kammerorchesters vergangenes Jahr. Zwischen uns war sofort eine gute Energie. Dass wir uns nun bei Jim Knopf getroffen haben, ist Corona zu verdanken. Eigentlich hätte ich im Sommer drei Monate in Aix-en-Provence sein sollen, um Simon Rattle zu assistieren. Daraus ist nichts geworden. Zugleich haben sich die Aufnahmen für Jim Knopf so verzögert, dass der vorgesehene Dirigent zum neuen Termin keine Zeit hatte. Also bin ich eingesprungen. Eine ganz neue Erfahrung. Wahnsinnig schön.

Kannten Sie den Film, bevor Sie ins Studio gegangen sind?

Ja, ich habe vorher mal reingeschaut, was sehr hilfreich war. Mit einem Bild kann man manchmal viel mehr erklären als mit zehn Parametern. Wenn ich sage: Das ist eine Wasserszene, da muss es gleiten und schweben, wissen alle, was gemeint ist.

Wie wichtig ist die Musik in diesem Film?

Sie ist der halbe Film. Es hat mich wieder aufs Neue überrascht, wie sehr sie die ganze Dramaturgie führt. Die Atmosphäre, die Spannung - all das entsteht fast ausschließlich durch die Musik. Immer wieder schlüpft die Melodie "Eine Insel mit zwei Bergen" hinein - eine Hommage an die Augsburger Puppenkiste, aber zugleich ist diese Musik von Ralf und seinem Co-Komponisten Marvin Miller etwas ganz Eigenständiges. Ich hoffe, dass viele Leute ins Kino gehen und sich den Film anschauen. Auch Erwachsene. Mir ist jetzt noch mal aufgefallen, wie tiefsinnig Michael Ende die Geschichte angelegt hat. Dabei halten sich wie immer bei ihm Schlichtheit und Poesie die Balance.

Als Künstler sind Sie nach wie vor eher in Lummer- als in Kummerland unterwegs. Wie machen Sie das?

Na ja, vieles ist derzeit nicht leicht, aber ich habe das Glück, in drei Welten zu Hause zu sein. Dirigieren, Komponieren und Klavierspielen. Junge Kolleginnen und Kollegen, die nur dirigieren, haben gerade eine wahnsinnig harte Zeit. Ich hoffe inständig, dass die Politik uns nicht länger hängen lässt. In den USA kann man sehen, wohin das führt - in eine Katastrophe. Einige meiner Musikerfreunde mussten das Land verlassen, weil sie dort einfach keine Perspektive mehr sehen. Es ist nicht nur ein finanzielles Problem. Man sagt ja oft: Ich lebe für die Musik. Jetzt habe ich die Erfahrung gemacht, dass es tatsächlich so ist. Wie schlimm es ist, Musik nicht mehr erleben zu dürfen. Auch das soziale Element bei Konzerten ist weggebrochen. Nach dieser unfreiwilligen Schocktherapie wächst hoffentlich das Bewusstsein, wie wichtig es ist, mit echten Menschen im gleichen Raum Musik wahrzunehmen und dieses Gefühl zu teilen. Das ist mir zuletzt noch klarer geworden, als ich mit dem Het Collectief aus Belgien Mahlers "Lied von der Erde" dirigieren durfte, und durch die Arbeit mit Teodor Currentzis.

Currentzis ist Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters. Zur Saisoneröffnung mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja haben Sie für die beiden ein Lied von John Dowland arrangiert, das von der Kritik gefeiert wurde. Wie kam es dazu?

Currentzis hat mich voriges Jahr gebeten, ihm bei Mahlers Neunter zu assistieren. Er ist ein unglaublich tiefgründiger und zugleich spontaner Mensch. Angesichts der Corona-Krise hat er alle Planungen kurzfristig über den Haufen geworfen und gesagt: Es ist eine außergewöhnliche Zeit, man muss sie nutzen, um den Menschen andere Musik zu zeigen. Neue Musik. Eine mutige Entscheidung! Ein Programm mit Helmut Lachenmann, Dmitri Kourliandski und Giacinto Scelsi - für ein Abo-Publikum. Das war ein Abenteuer.

Und wie kam Dowland ins Spiel?

Die Idee hatte Currentzis zwei Tage vor dem Konzert. Er wollte noch ein anderes Licht reinbringen und hat uns "Weep you no more, sad fountains" auf Youtube vorgespielt. Patricia sollte das spielen oder singen. Am Tag vor dem Konzert nach der letzten Probe sagte er, es wäre cool, wenn ich mir noch etwas für die Streicher einfallen lassen würde. Also habe ich über Nacht ein kleines Arrangement geschrieben.

Das Publikum war hingerissen. Der SZ-Kritiker sprach von einem magischen Moment der Trauer. Schmerzt es Sie, dass Ihr Name nicht in den Kritiken auftaucht?

Überhaupt nicht. Mein Name taucht an genügend anderen Stellen auf. Es war mir eine Freude, für diese zwei Künstler, die ich bewundere, etwas arrangieren zu dürfen. Und das Wichtigste war, dass diese Musik passiert ist, dass es diesen Moment gegeben hat.

Sie haben nun mit drei Star-Dirigenten gearbeitet: Sir Simon Rattle, Kirill Petrenko und Teodor Currentzis. Wie beeinflusst das Ihre künstlerische Entwicklung?

Alle drei sind völlig unterschiedlich. Die Gefahr, dass ich einen von ihnen unbewusst kopieren könnte, ist denkbar gering. Bei jedem habe ich gesehen: Ah, so lebt er das. Und von jedem habe ich etwas anderes mitgenommen. Petrenko fasziniert durch seine Konzentration auf das Allerwesentlichste. Rattle ist einzigartig durch seinen intelligenten Witz und Esprit. Und an Teodor beeindruckt mich die tiefe Suche, Musik bedeutungsvoll zu machen, sie fast wie ein religiöses Ritual zu zelebrieren, Neues zu wagen. Bei ihm lernt man, Mut zu haben.

Neues wagen Sie auch bei Ihren Kompositionen. Inwiefern fließt die Corona-Krise in Ihre Arbeit ein?

Für den Tenor Julian Prégardien komponiere ich im Auftrag der Kölner Philharmonie gerade ein Lied, das auf das Beethoven-Jahr Bezug nehmen soll. Der Aspekt, isoliert zu sein, hatte für Beethoven eine einschneidende Bedeutung, als er sein Gehör verlor. Durch Corona ist dies eine universelle Erfahrung geworden. Aber die Art der Einsamkeit hat sich gewandelt. Wir alle sind einsam wie die Fliege im Netz - ein verrückter Zustand. Durch die Digitalisierung sind wir permanent mit tausend Leuten in Kontakt, geraten in Stress, Mails zu beantworten oder an Videokonferenzen teilzunehmen, und am Abend merken wir, dass wir faktisch den ganzen Tag allein waren. Wir sind soziale Wesen. Wir müssen das Sozialsein kultivieren. Nicht mit Hilfe, sondern wegen der Digitalisierung. Diesem Gedanken versuche ich künstlerisch Ausdruck zu verleihen.

Es darf also noch harmonisch klingen?

Ausschließlich apokalyptische Stücke haben wir genug. Ich versuche eine Richtung einzuschlagen, die zeigt, wohin die Energie gehen sollte. Die größte Herausforderung der Menschheit ist unsere Bequemlichkeit. Das spiegelt sich in der globalen Erwärmung wie in der Vermüllung der Welt. Für die großartige Percussionistin Vivi Vassileva komponiere ich gerade ein Recycling Concerto, das am 18. November mit der Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz uraufgeführt werden soll. Vivi spielt auf Instrumenten, die wir aus Wertstoffen gebastelt haben. Zum Beispiel auf einem Marimbafon aus Plastikflaschen. Wenn man Fahrradventile einbaut und sie aufpumpt, kann man sie stimmen.

Das erinnert ein bisschen an "Imbrothersation". Warum verzichten Sie und Ihr Bruder Raphael auf die Nasenflöte?

Wir riskieren es diesmal, unseren improvisatorischen Ansatz auf den gesamten Abend auszuweiten. Bislang hatten wir ja eine choreografierte Show, in die wir auch alte oder neue Kompositionen eingebaut haben. Diesmal wollen wir wissen, was passiert, wenn man sich ganz der Energie des Moments hingibt. Und das Publikum komponiert mit.

Improvisation ist Trumpf: Raphael und Gregor Mayrhofer, Donnerstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Loisachhalle, Wolfratshausen, ausverkauft

© SZ vom 29.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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