Autismus"Wir haben nur noch uns"

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Gefährten: Markus Eickert (links) hat das Asperger-Syndrom und betreut seinen Bruder Johannes, der als frühkindlicher Autist nicht sprechen kann.
Gefährten: Markus Eickert (links) hat das Asperger-Syndrom und betreut seinen Bruder Johannes, der als frühkindlicher Autist nicht sprechen kann. (Foto: Privat/oh)

Weil die Großstadt sie belastet, wollen die autistischen Brüder Markus und Johannes Eickert sich auf dem Land ein neues Leben aufbauen - und suchen nach einer neuen Heimat in Egling.

Von Felix Haselsteiner

Bevor Markus Eickert die tragische Geschichte von sich und seinem Bruder erzählt, will er einem erst versichern, dass es in Ordnung ist, ihn darauf anzusprechen. Dass er das, was die Brüder Markus, 32, und Johannes, 31, erlebt haben, gerne bereit ist zu schildern - und dass die Begründung dafür, warum es kein Problem für ihn ist, über seine Vergangenheit zu sprechen, schon viel darüber verrät, was die Verbindung der beiden Brüder ausmacht. "Wir Autisten", sagt Markus Eickert nämlich, "sind sehr rational und sachlich." Und dann erzählt er - ruhig, ohne lange Pausen und gerade deshalb eindrücklich - wie er und Johannes zu dem wurden, was sie heute sind. Und davon, warum ihre Geschichte bald in Egling weitergehen soll, wo sie sich ein neues Leben aufbauen wollen.

Das Schicksal der beiden Brüder ist von ihrer Geburt an vorgezeichnet: Markus ist am Asperger-Syndrom erkrankt, er hat Schwierigkeiten damit, seine Umwelt so wahrzunehmen, wie sie ist, und sozial zu interagieren: In einem Restaurant fällt es ihm schwer, Gespräche am Nebentisch auszublenden. In der U-Bahn nimmt er die Kurven so stark wahr, dass es ihn gefühlt nach rechts und links schleudert. "Johannes und ich gehen nur mit Kopfhörern vor die Tür, weil die Lautstärke sonst so hoch ist, dass wir Kopfschmerzen bekommen", sagt er. Johannes ist frühkindlicher Autist, er ist schwerstbehindert und kann nicht sprechen, sondern nur durch Gesten und Laute auf sich aufmerksam machen.

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Vierzehn und dreizehn Jahre alt sind die Brüder, als sie zum ersten Mal mit einem Verlust zurecht kommen müssen: Die Familie wird vom Vater verlassen und verliert damit auch ihre finanzielle Sicherheit und das Haus im bayerischen Aschaffenburg. Doch es soll nur der erste von mehreren Schicksalsschlägen im Leben der beiden sein. Einige Jahre später stirbt ihre Schwester im Alter von 18 Jahren bei einem Autounfall an der polnischen Grenze, sie hatte mit ihrem Freund einen Ausflug gemacht. Eickert fährt nach dem Unfall nach Polen: "Damit es meine Mutter nicht machen musste, habe ich dort die Leiche identifiziert", sagt er. Johannes bleibt nach dem Tod der Schwester weiterhin bei seiner Mutter wohnen, der ältere Bruder zieht mit seiner Freundin nach Frankfurt am Main.

Vor zwei Jahren stirbt die Mutter, die Johannes zuhause betreut, plötzlich an einem Herzinfarkt. Johannes ist in der Wohnung, er bekommt alles mit, versucht noch bei den Nachbarn Hilfe zu holen, "aber er konnte meine Mutter nicht wiederbeleben", sagt Eickert. Er holt Johannes daraufhin zu sich in die Wohnung, sie sind auf sich alleine gestellt. Ihr Vater taucht zwar auf - allerdings nur, um sich das Behindertengeld, das Johannes bekommt, zu erstreiten.

Mittlerweile hat Eickert sich das volle Sorgerecht für seinen Bruder gerichtlich zusagen lassen, Johannes und er wohnen in einer Frankfurter Wohnung. Eine Familienhelferin unterstützt die Brüder im Alltag, denn die Belastung der Großstadt setzt beiden zu. "Es ist kraftraubend, weil wir über einen sehr schwachen Reizfilter verfügen. Nach ein paar Jahren in der Großstadt ist dieser Filter kaputt." Jeder Schritt vor die Tür wird so zur Anstrengung.

Ihre besten Zeiten haben Markus und Johannes immer dann, wenn sie Max besuchen, der die Eickerts aus Frankfurt kennt. "Mit Max haben wir einfach eine gute Zeit, er kennt auch Johannes schon lange und bezeichnet uns als seine besten Freunde", sagt Markus Eickert. Das sei ein besonderes Zeichen, Max nämlich lebt vor, worüber in der Gesellschaft Einigkeit herrschen sollte: "Johannes gehört dazu."

Max ist vor einigen Jahren nach Thanning gezogen, ein paar Kilometer außerhalb von Egling. Wenn die Brüder ihren besten Freund auf dem Land besuchen, spielt Johannes mit Max' Pflegehund. Sie machen Ausflüge, genießen die Ruhe. Vor einiger Zeit treffen sie die Entscheidung, dass ein Leben auf dem Land, in der Nähe von Max und umgeben von der Ruhe, die für autistische Menschen so viel mehr Lebensqualität bedeutet, besser wäre. Erzähle er Johannes von Egling, so Markus, sage der nur ein Wort: "heim". Für den älteren Bruder steht fest: "Wir möchten einfach nur ein ruhiges Leben führen und uns etwas Neues aufbauen."

Sehnsuchtsort auf dem Land: In der Gemeinde Egling wollen sich Markus und Johannes Eickert ein neues Leben aufbauen, in der Nähe ihres besten Freundes Max und fernab vom Lärm und der Hektik in Frankfurt am Main, wo sie derzeit noch wohnen.
Sehnsuchtsort auf dem Land: In der Gemeinde Egling wollen sich Markus und Johannes Eickert ein neues Leben aufbauen, in der Nähe ihres besten Freundes Max und fernab vom Lärm und der Hektik in Frankfurt am Main, wo sie derzeit noch wohnen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Aktuell hat Eickert daher auf allen bekannten Portalen und Plattformen Anzeigen geschaltet, das Brüderpaar ist auf der Suche nach einem Wohnort. Möglichst in Egling und nicht in Wolfratshausen oder Geretsried, wo der starke Verkehr wieder das Tagesgeschehen mitbestimmen würde. Markus und Johannes sehnen sich nach einem anderen Leben: "Johannes hat eine irrsinnig enge Beziehung zu Tieren, er würde sich auch freuen, wenn er mal in einem der umliegenden Ställe ausmisten könnte", sagt Eickert.

Auf seinen öffentlichen Facebook-Eintrag habe er viele Reaktionen bekommen: "Ich bin überwältigt", sagt Eickert. Die Unterstützung der Menschen in der Region sei großartig. Doch er weiß auch um die erschreckend unzeitgemäßen Meinungen einiger Weniger: "Viele Leute sind abgeschreckt von einem behinderten Menschen." Dabei brauchten er und sein Bruder nicht viel - eine Zwei-Zimmer-Wohnung wäre bereits ausreichend. Und sie wollen ein geselliges Leben führen, sagt Markus: "Wir gehen auch gerne für andere einkaufen, wir sind sehr sozial."

Viele fragen Markus, warum er seinen Bruder nicht in ein Pflegeheim gibt. Das wäre doch einfacher, dann könne er doch einfach sein eigenes Leben leben. "Ich habe sonst niemanden", sagt Eickert dann jedoch über seinen Bruder, mit dem er sein tägliches Leben teilt, genauso wie eine tragische Lebensgeschichte. Diese Bande sind für Johannes lebenswichtig, aber auch dem älteren Bruder bedeuten sie sehr viel. Das merkt man im Gespräch mit ihm, trotz seines ruhigen Tonfalls, in dem er bleibt, egal ob er gerade von einem besseren Leben in Egling träumt oder trotzig sagt: "Mir ist egal, was die Gesellschaft von mir hält. Wir haben nur noch uns."

© SZ vom 23.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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