Im Märchen ist es die arme Müllerstochter, die Stroh zu Gold spinnen soll. Im Eglinger Weiler Reichertshausen hat Ruth Gassner viele Nächte damit verbracht, Kunststofffäden durch Kartons zu schieben, sie zu biegen und mit Stecknadeln zu bändigen, sie anzuritzen und ihnen Tütchen aus gefärbten Papier aufzusetzen. Seit acht Jahren feilt sie an einer Technik, die sie „noch nirgends auf der Welt gesehen“ hat, wie sie sagt. Das Ergebnis: magische Bilder aus leuchtenden Fäden. Poesie aus Licht.
„Durch den Wind“ heißt etwa ein Großformat, auf dem Hunderte gelbe Tütchen wie ein Kornfeld wogen. Ein anderes erinnert an Glühwürmchen, die wie Funken durcheinanderwirbeln. Dann wieder gibt es zarte Reliefs aus Lichtfäden, die paradiesisch anmuten: Wie hingehaucht schimmern goldene Vögel zwischen Zweigen und Blüten. „Ich liebe Vögel“, sagt die Künstlerin. „Vögel verkörpern Licht, Leichtigkeit und Lebendigkeit. Sie sind nicht ganz von dieser Welt.“
Das altmodische Wort Lichtbildnerin bekommt in ihrem Atelier eine ganz neue Bedeutung. Indem sie jedem einzelnen der unzähligen Fäden eine Richtung und Bestimmung gibt, modelliert Ruth Gassner Licht. Ihre volle Wirkung, Glanz und Tiefe entfalten die dreidimensionalen Bilder bei Dunkelheit – und wenn sie ans Stromnetz angeschlossen werden. Dann verwandeln sich auch vermeintlich blasse Arrangements wie Stroh zu Gold.
Mit Nadel und Faden weiß Gassner seit mehr als 40 Jahren umzugehen. Sie hat die Meisterschule für Mode besucht, war persönliche Assistentin von Helmut Lang und hat 30 Jahre lang als Kostümbildnerin und Designerin eigene Kollektionen für ihr Label „Pajas“ entworfen. An der Franz-Joseph-Straße in München betrieb sie einen Laden. „Ich bin jemand, der sich gut vorstellen kann, wie Dinge aussehen können“, sagt sie. „Das habe ich von meinen Eltern.“
Gassner stammt aus einer kunstaffinen Familie. Ihre Eltern haben sich an der Akademie in München kennengelernt. „Beide besuchten die Innenarchitektur-Klasse.“ Ihr Vater habe dann als Filmausstatter für die Bavaria gearbeitet, ihre Mutter die drei Töchter großgezogen – und ihnen die Augen für das Schöne geöffnet. Als es der Familie in der Münchner Wohnung zu eng wurde, zogen sie nach Hornstein, ein Dorf bei Egling. Ruth, damals neun Jahre alt, „selbstbewusste Bandenchefin“ aus München, „war fassungslos“, wie sie sich erinnert: „Ich habe kein Wort von dem verstanden, was die Leute hier gesagt haben.“ Das hat sich geändert.
Ihre eigenen beiden Kinder sind in der Gemeinde Egling groß geworden. Mit ihrem Mann, dem Drehbuchautor Christian Jeltsch, hat sie 2003 ein altes Austragshaus in Reichertshausen gekauft und es mit viel Gespür und Liebe in ein Schmuckstück verwandelt. Wer die Holztreppe in ihr Atelier hinaufsteigt, findet sich zwischen zwei Welten wieder. An den Wänden stapeln sich teure Stoffballen, die Gassner auf Messen in Paris ausgewählt hat; auch zwei Nähmaschinen stehen noch bereit. Doch dominierend im Raum sind die Leuchtfadenbilder. Sie lehnen in verschiedenen Farben und Formaten an den Wänden oder warten auf Tischen darauf, weiter bearbeitet zu werden.
Der Übergang sei fließend gewesen, erzählt die Künstlerin. Vor zehn Jahren habe sie angefangen, mit Lichtkleidern zu experimentieren. „Die Models trugen unter den Röcken Projektoren, die richtig heiß wurden, man musste aufpassen, dass sie sich nicht verbrennen.“ Die Kleider sahen toll aus – waren aber untragbar. An lichtführenden Fäden hatte Gassner jedoch Gefallen gefunden. Dann der Gedanke, die Kleider einfach wegzulassen. Nachts, wenn Kunden, Kinder und Hunde versorgt waren, arbeitete sie an ihrem ersten Licht-Objekt, testete Techniken und Materialien, scheiterte, probierte es anders, probierte es noch einmal. „Sich etwas vorstellen können, ist das eine“, sagt sie. „Aber dann braucht man auch den Willen, es zu verwirklichen.“
Dass sie nicht nur über Kreativität und Ausdauer, sondern auch über eine große zeichnerische und gestalterische Begabung verfügt, zeigen ihre neuesten Werke, in denen sie figürlich mit weißem Licht auf dunklem Hintergrund arbeitet: Da erstrahlt etwa ein Stierkopf, dessen Hörner über das Bild hinausragen. Oder eine Taube schwingt sich, einen Ölzweig im Schnabel, elegant in den Himmel. Die Formen sind fließend, klar und reduziert. Wer indes von der Seite einen Blick auf die Arbeiten wirft, kann kaum glauben, dass dieses Wirrwarr von Fäden ein Stück aus einem Guss ergeben könnte – wie bei einem raffinierten Kleid, dem nicht anzusehen ist, welche Nähte und Kniffe in ihm stecken.
„Ich habe einen Mann, hinter dem man sich gut verstecken kann.“
Ihren Laden hat Ruth Gassner nach 30 Jahren aufgegeben. „Corona hat ihn gekillt.“ Auch wenn sie Stammkundinnen noch weiter mit exklusiver Kleidung versorgt, will sie sich künftig auf die Licht-Kunst konzentrieren. „Ich habe einen Mann, hinter dem man sich gut verstecken kann“, sagt sie. Jetzt wage sie erstmals als Künstlerin den Schritt in die Öffentlichkeit: Mitte Juli stellt sie im Pathos Theater in München ihre „Bilder aus Lichtfäden“ aus.
Auf dem Gang zwischen Atelier und Treppenhaus hält sie vor einem Großformat inne, streicht mit der Hand durch zarte Lichtblätter, die sich im Luftzug bewegen, über ihr erstrahlt eine gleißende Sonne. „Das schönste Kompliment hat mir mein Sohn gemacht“, erzählt sie. „Er hat gesagt: Diese Bilder sind wie du.“ Der Titel der Arbeit heißt „Der Garten“.
Ruth Gassners Arbeiten sind am Samstag, 13. Juli, von 13 bis 19.30 Uhr, und am Sonntag, 14. Juli, von 10 bis 20 Uhr im Münchner Pathos Theater, Dachauer Straße 110d, zu sehen. Weitere Informationen unter lichtfadenwerke.com