Süddeutsche Zeitung

Europawahl im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen:"Wir müssen europäischer denken"

Der ehemalige Ministerpräsident und wohl bekannteste Wolfratshauser, Edmund Stoiber, fordert Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat. Er bezweifelt jedoch, ob Deutschland soweit ist, sich überstimmen zu lassen.

Interview von Benjamin Engel

Bis 2007 ist Edmund Stoiber bayerischer Ministerpräsident und CSU-Parteivorsitzender gewesen. Anschließend leitete er in Brüssel für die EU sieben Jahre die sogenannte High Level Group zum Bürokratieabbau. Im Gespräch thematisiert er seine Erfahrungen und die Zukunft der Europäischen Union.

SZ: Herr Stoiber, auf den aktuellen Plakaten der CSU zur Europawahl steht "Tu was für Europa". Was bedeutet das für den einzelnen Bürger?

Edmund Stoiber: Das ist eine klare Aufforderung. Wir haben jetzt die europäischen Wahlen. Die Europawahlen hatten im Vergleich zu Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen immer eine geringere Wahlbeteiligung. "Tu was für Europa" heißt "hier, geh' zum Wählen. Nimm das emotional genauso ernst wie eine Bundestagswahl, wo du selbstverständlich zur Wahl gehst." Das soll das Plakat ausdrücken. Eine Europawahl ist für viele nicht selbstverständlich genug. Also engagiere dich.

Genau das machen viele junge Menschen. Bei den "Fridays for Future"-Demos gehen Schüler für mehr Klimaschutz auf die Straße - auch in der Region. Wie stehen Sie eigentlich dazu?

Politisches Engagement gerade junger Menschen ist für die Zukunft jeder Demokratie von entscheidender Bedeutung. Es ist ein großes Zeichen der Jugend, für die Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaabkommens, den globalen Temperaturanstieg auf unter zwei Grad zu begrenzen und den CO₂-Ausstoß erheblich zurückzuführen, zu demonstrieren. Es geht ja auch um eine zentrale Herausforderung für die gesamte Menschheit. Dafür aber die Schulpflicht zu brechen, eine große Errungenschaft des Kulturstaats, ist auf die Dauer nicht der richtige Weg. Denn Regeln müssen in unserem Rechtsstaat eingehalten oder geändert werden. Es muss gelingen, das große Klima-Engagement der Schülerinnen und Schüler auch zu einem politischen Engagement werden zu lassen. Denn die Politik entscheidet letztlich über die Einhaltung der Klimaziele.

Ursprünglich war die Europäische Union ein Elitenprojekt. Ohne die Identifikation der Bürger geht es aber nicht. Ist das nicht ein Widerspruch?

Die Europäische Union hat ja mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 begonnen, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der französische Außenminister Robert Schuman hat in seinen Memoiren geschrieben: "Hätte ich damals die Franzosen gefragt, hätte ich eine Ablehnung von 80 bis 90 Prozent bekommen." 1979 konnten die Bürger dann erstmals das Europäische Parlament direkt wählen. Heute haben wir einen gemeinsamen Markt, also die Freiheit der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen, der Personen. Das ist ja eine Riesenentwicklung. Jetzt kommen wir natürlich an eine neue Schwelle.

Inwiefern?

Die Welt hat sich verändert. Ich sage nur "America First", US-Präsident Donald Trump. Die Vereinigten Staaten stehen nicht mehr so an unserer Seite wie früher, Trump sieht die EU als Rivalen. Wir haben einen neuen Konkurrenten, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, China. Wir haben einen schwierigen Nachbarn namens Russland. Unter diesem Gesichtspunkt muss Europa stärker auf eigenen Beinen stehen. Ökonomisch sowieso, aber auch in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik oder beim Klimaschutz.

Andererseits schüren gerade rechte bis rechtsextreme Parteien Emotionen gegen die Europäische Union. Ist nicht auch die CSU oft nach der Devise verfahren, dass alles Negative aus Brüssel kommt?

Für die CSU gilt der eherne Grundsatz von Franz Josef Strauß: "Bayern ist meine Heimat. Deutschland ist mein Vaterland, Europa ist unsere Zukunft." Heute kann man ergänzen, Europa ist auch unsere Gegenwart. Die Frage ist, was muss ich europäisch regeln und was nicht. Die CSU ist dem Prinzip der Subsidiarität sehr verpflichtet. Das bedeutet mit Bezug auf Europa: Das, was Bund, Länder oder Kommunen besser zu leisten vermögen, verlegt man nicht auf die europäische Ebene. Viele Leute sagen, machen wir doch aus der Europäischen Union einen Bundesstaat. Das geht auf absehbare Zeit überhaupt nicht. Die Menschen definieren sich in ihrer Identität durch die Nation und nicht in erster Linie durch Europa. Wir können die Nationalstaaten deshalb nicht einfach ersetzen.

Fehlt es nicht an einer europäischen Öffentlichkeit, um überhaupt weiterkommen zu können?

Ich kann den europäischen Gedanken nur dann vermitteln, wenn ich darüber berichte. Die Berichte über Debatten im Deutschen Bundestag sind um ein Vielfaches mehr als die über Debatten im Europäischen Parlament. Die Deutschen müssen stärker berücksichtigen, dass die Menschen in anderen europäischen Ländern andere Probleme als wir haben. Wir haben in vielen Branchen einen Mangel an Arbeitskräften. In Ländern wie Italien oder Spanien ist das wichtigste Thema aber die Arbeitslosigkeit. Oder: Wir suchen beispielsweise dringend Pflegekräfte. In Rumänien gehen fast alle, die pflegen können, nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland. Die Rumänen sagen: "Unser Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Ihr macht euch überhaupt keine Gedanken über unsere Situation." "Tu was für Europa" bedeutet auch, dass die Deutschen ein Stück europäischer denken müssen.

Und das hat Deutschland bisher zu wenig gemacht?

Wir haben in der Vergangenheit einiges im Alleingang gemacht, von der Energiewende bis zur Migration. Das sind aber Themen, die für ganz Europa entscheidende Bedeutung haben. Da haben wir uns mit den anderen europäischen Ländern überhaupt nicht abgestimmt. Die haben uns dann gesagt, wenn das doch ein europäisches Problem ist, müsste das doch gemeinschaftlich entschieden werden.

Wie müsste sich Ihrer Ansicht nach die Europäische Union denn grundsätzlich weiterentwickeln?

Wir brauchen eine klare europäische Antwort zur Regulierung der großen Digitalisierungsunternehmen. Wir wollen eine engere Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Und wir brauchen eine stärkere europäische Außenpolitik, die schneller auf neue Herausforderungen reagieren kann. Dafür braucht es aber Mehrheitsentscheidungen, um Blockaden einzelner Länder zu verhindern. Jetzt ist die Frage, ob wir in Deutschland soweit sind, uns in substanziellen Fragen auch mal überstimmen zu lassen. Ich habe da meine Zweifel.

Viel wird auch von einer sozialeren Union gesprochen.

Europäischer Mindestlohn, Arbeitslosen- oder Rentenversicherung: Das ist in den europäischen Verträgen aus guten Gründen nicht geregelt. Sozialsysteme liegen in der Verantwortung der Nationalstaaten. Ein wirtschaftlich starkes Land kann sich natürlich mehr Soziales leisten. Wir diskutieren in Deutschland, ob und wie wir eine Grundrente finanzieren können. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie diskutieren die Grundrente für ganz Europa. Wie soll das funktionieren? Man muss Realist bleiben. Erst einmal müssen wir alles tun, um den Gegnern Europas Paroli zu bieten.

Kürzlich hat aber die CSU den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán, der Kampagnen gegen die EU führt, noch zu Klausurtagungen eingeladen.

Die Europäische Union hat gerade durch die Osterweiterung 2004 viele neue Mitglieder bekommen, deren Mentalität und Verständnis von staatlicher Souveränität sich historisch bedingt von der Liberalität westeuropäischer Prägung deutlich unterscheidet. Das trifft vor allem auf die Einwanderungspolitik zu. Aber die Kampagne gegen Juncker und Soros ist bei vielen Mitgliedern der Europäischen Volkspartei auf Kritik gestoßen. Die Debatte um Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei ist in der EVP mit der Suspendierung jetzt erst einmal entschieden.

Sie haben sieben Jahre lang die sogenannte High Level Group zum Bürokratieabbau geleitet. Angeblich werden so jetzt im Jahr etwa 33 Milliarden Euro an Kosten eingespart. Woran merkt der einzelne Bürger das?

Einer der größten Erfolge zum Beispiel war, dass die Finanzämter bei der Mehrwertsteuer nun elektronische Rechnungen anerkennen. Vorher musste das alles auf Papier eingereicht werden. Vor allem kleinen und mittleren Unternehmen hat das in der EU jährlich 18 Milliarden Euro Entlastung gebracht, allein in Deutschland sind es 3,6 Milliarden Euro. Oder ganz grundsätzlich: Als Folge des Abschlussberichts der High Level Group wurde mit Frans Timmermans ein für bessere Rechtsetzung zuständiger Vizepräsident der EU-Kommission eingesetzt, der sein Veto gegen jede Vorlage einlegen kann, die aus seiner Sicht zu viel Bürokratie beinhaltet. Das hat Wirkung gezeigt: Es gibt heute viel weniger neue bürokratische Regelungen aus Brüssel als noch vor fünf Jahren.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2019/axi
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