Süddeutsche Zeitung

Ausgezeichnetes Projekt:Inklusion mit Streicheleinheiten

Einmal im Monat können Demenzkranke und Angehörige auf dem Bauernhof von Ursula Fiechtner für ein paar Stunden eine Auszeit nehmen. Die Gründerinnen wurden mit dem Nachhaltigkeitspreis der Sparkasse geehrt.

Von Veronika Ellecosta, Wackersberg

Am frühen Nachmittag humpelt eine schwarz-orange gescheckte Katze über den Fiechtner-Hof in Rothenrain. Sie erklimmt die Treppe an der Außenseite des Bauernhauses, und ihre Pfoten tapsen dabei unregelmäßig auf das Holz. Tock, tock, tocktock. "Sie hat sich den Fuß gebrochen und wollte sich nicht behandeln lassen. Deshalb ist er schief zusammengewachsen", ruft Bäuerin Ursula Fiechtner aus der Stube, wo sie noch die letzten Vorbereitungen trifft und Schokoladenkuchen und einen Zopf schneidet. In wenigen Minuten werden die ersten Demenzkranken und Angehörigen in der Stube Platz nehmen. "Aber jetzt ist sie eben die Inklusionskatze und gehört zum Hofbesuch dazu."

"Inklusiver Bauernhof" heißt das Projekt, das Kreisbäuerin Ursula Fiechtner aus Wackersberg gemeinsam mit Ute Reuter von der Caritas-Kontaktstelle "Alt & Selbständig" organisiert hat. Jeden zweiten Mittwoch im Monat öffnet Fiechtner ihren Hof in Rothenrain für Demenzkranke und Angehörige. Zwei Stunden lang können sie den Hof erkunden, die Hasen mit Löwenzahn füttern und die Kälber streicheln oder bei Kaffee und Kuchen entspannen und sich von den Alltagsstrapazen erholen. Für ihr Engagement sind Reuter und Fiechtner unlängst mit dem mit 3000 Euro dotierten dritten Platz beim Nachhaltigkeitspreis der Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen geehrt worden. "Das ist eine gute Grundlage, um weiterzumachen", sagt Reuter zufrieden.

Die Idee, auf dem eigenen Hof im Sinne der sozialen Landwirtschaft Menschen mit besonderen sozialen Bedürfnissen willkommen zu heißen, habe sie schon länger begleitet, erzählt Fiechtner, während sie das Besteck auf dem Tisch in der Stube verteilt, die Kaffeekanne befüllt und die Kuchentabletts anordnet. 2005 habe sie einen Mieter gehabt, der als Pfleger in einer psychiatrischen Station gearbeitet und ab und zu Patienten auf den Hof gebracht habe. "Er hat mir berichtet, dass die Menschen nach dem Besuch sehr gelassen waren." Ein Fernsehbeitrag über ein Projekt der Sozialen Landwirtschaft in Garmisch-Partenkirchen habe dann den Funken überspringen lassen. "Da dachte ich mir: Mensch Meier, das ist ja auch bei mir möglich." Ute Reuter, die sie vom Seniorenbeirat des Landkreises kennt, war sofort dabei. Gemeinsam haben die beiden Frauen das Projekt ins Leben gerufen, sie veranstalten den betreuten Nachmittag mittlerweile zum fünften Mal.

Die Stube unterhalb der Ferienwohnungen am Hof füllt sich langsam: Zwei Ehepaare und zwei ältere Frauen sind da, machen es sich auf der Holzbank gemütlich und genehmigen sich erstmal eine Tasse Kaffee. Die Gäste kennen einander schon und beginnen gleich, angeregt miteinander zu sprechen. Margrit, 84, und ihr an Demenz erkrankter Ehemann Hans-Heinrich, 85, sind von Anfang an mit dabei. Sie schätze die Gemeinschaft und den Austausch mit anderen Betroffenen, erzählt Margrit mit einem Lächeln. Ein Herr erkundet bereits auf eigene Faust das Gelände, streunt über den Hof und entdeckt ein Katzenbaby. "Ganz ein Liebes bist du", sagt er und schaut ihm hinterher.

"Viele an Demenz Erkrankte kommen selbst vom Bauernhof", sagt Ute Reuter. Altbekannte Gerüche nach Stroh und Tieren und vertraute Geräusche wie die Kuhschellen weckten oft Erinnerungen. Den Bauernhof mit allen Sinnen zu erleben tue den Menschen außerdem gut, ist sie überzeugt. Darüber hinaus sei es ihnen ein Anliegen, mit ihrem Angebot auch pflegende Angehörige anzusprechen. Viele gingen nicht gerne in Cafés mit den Erkrankten, weil sie dies als stressig empfänden. "Hier gibt es einen freien Umgang mit Demenz." Für die Angehörigen biete der Nachmittag in Rothenrain somit einen sicheren Raum zum Abschalten und Entspannen. "Pflegende Angehörige haben keinen freien Tag. Der Hofbesuch ist wie Urlaub für sie", sagt sie und öffnet ihre Arme in Richtung der Alpen am Horizont, die vereinzelt schon mit Schneehäubchen bedeckt sind. "Es ist eine Oase der Ruhe hier. Und diese Kulisse!"

Eine pflegende Angehörige, eine Frau in hellblauer Daunenjacke, ist mit dem E-Bike hergeradelt. Eine halbe Stunde habe die Fahrt gedauert. Ihr Mann sei vor zwei Jahren an Demenz erkrankt, erzählt sie, jetzt benötige er eine 24-Stunden-Betreuung. Auf die Frage, wie sie ihre Situation zuhause erlebe, seufzt sie kurz. "Die Pflegerin hat mich verschickt, ich soll mal rauskommen." Auch sie war schon öfter in der Runde am Hof der Fiechtners dabei und schätzt das Angebot sehr.

Magrit und Hans-Heinrich haben sich indessen auf den Weg zu den Kälbern gemacht. Eingehakt schlendern sie vorbei am Holzschuppen und den Hasen Richtung Stall. Zuerst ist das Kälbchen scheu und versteckt sich in seiner Box, erst nach einiger Zeit fasst es Vertrauen und nähert sich dem Ehepaar für ein paar Streicheleinheiten. Mit der rauen Zunge fährt es über sein Maul, und Hans-Heinrich lacht. "Für die Erkrankten ist es ein niedrigschwelliges Angebot und für mich ist so ein Nachmittag kein großer Aufwand. Der Weiler hier bietet sich an, weil die Straße wenig befahren und daher recht sicher ist", sagt Ursula Fiechtner, bevor sie wieder im Haus verschwindet. Sie wünscht sich, dass der inklusive Hofbesuch auch als Vorbild für andere Landwirte im Landkreis dient.

Als die Bäuerin zurück in die Stube kommt, sind auch die anderen Ausflügler wieder da. Es gibt noch mehr Kuchen und Kaffee, und Fiechtner tischt frische Ausgezogene auf, mit denen sie auf viel Begeisterung stößt. Alle greifen zu. Hans-Heinrich erzählt davon, wie er als 14-jähriger Junge einen Artikel über Schmelzbasalt für eine Lokalzeitung verfasst hat, die Dame in der hellblauen Jacke ist in ein angeregtes Gespräch vertieft, und Fiechtner gibt ihr Geheimnis preis, wie ihr die Ausgezogenen so luftig und locker gelingen. Als sich der Nachmittag dem Ende zuneigt, gibt es noch Bellini, und die Katze mit dem Hinkebein schaut noch einmal neugierig zur Tür herein.

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