Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Posse an der deutsch-österreichischen Grenze

Die Bewohner der Enklave Hinterriß stehen in der Coronakrise vor einem besonderen Problem. Sie kommen zwar aus Österreich raus und rein nach Deutschland - aber nicht wieder zurück.

Von Claudia Koestler

Mal eben schnell die Zeit oder das Wetter nutzen, erst am Sylvensteinspeicher spazieren gehen und anschließend in Österreich billiger tanken? Keine Chance mehr. Deutschland hat seine Grenzen geschlossen, und das gilt auch für einen eher kleinen, aber gerne als touristischer Schleichpfad genutzten Übergang im Süden des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen nach Tirol: der Grenzübergang Achenpass, auch Kaiserwacht oder "Wachtl" genannt.

Seit Montag schon, dem Tag der ersten Allgemeinverfügung, kontrollierten Beamte der Bundespolizei dort genauso streng wie an den größeren Übergängen, zum Beispiel auf der Autobahn bei Kufstein-Kiefersfelden. Das allerdings bedeutete einen Personalaufwand, der nicht lange durchzuhalten war. Und so ist seit Donnerstag die B 307 auf Höhe der Kaiserwacht statt mit Polizeiaufgebot mit einer Lawinenschranke versperrt. Die Zufahrt Richtung Österreich und auch ins Tegernseer Tal aus Richtung Lenggries, Fall oder Sylvensteinspeicher ist somit geschlossen.

Für Pendler und Landkreisbürger, die am "Wachtl" kaum mehr eine Grenze nach Tirol wahrgenommen haben, eine so ungewohnte wie harte Erfahrung. Doch für eine kleine Gruppe von Landkreis-Nachbarn eine schiere Katastrophe: all jene, die in Hinterriß leben.

Der Grenzverlauf nämlich macht noch einen besonderen Schlenker am Rande von Bad Tölz-Wolfratshausen. Wer am Sylvensteinspeicher nicht links abbiegt zur Kaiserwacht, sondern rechts in Richtung Fall und dann weiterfährt, passiert eine weitere Grenze zu Österreich, und zwar in Vorderriß. Während am "Wachtl" das alte Grenzhäuschen mit seinem geschwungenen Dach aus den 1950er Jahren noch immer an einen Übergang erinnerte, erkennen in Vorderriß nur noch Eingeweihte das ehemalige Grenzhaus. Es folgen ein paar Almen, die kleine Ortschaft Hinterriß und schließlich die Eng mit ihren berühmten Ahornböden und dem Talschluss. Hier endet der Weg, zumindest für all jene, die nicht bergsteigen.

Die Bewohner der Enklave sind der österreichischen Gemeinde Vomp zugeordnet. Sie müssen für alle offiziellen Angelegenheiten jedes Mal über deutsches Gebiet reisen - einmal aus Österreich raus in Vorderriß, entlang am Sylvensteinspeicher und dann am "Wachtl" wieder rein. Das schafft gerade in der Corona-Krise eine noch nie dagewesene Situation. Zwar wird, wie die Bundespolizei bestätigt, der ehemalige Grenzübergang Vorderriß nicht kontrolliert. Die Hinterrißer kommen also raus, aber auf der anderen Seite nicht wieder rein in ihr Land.

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"Das ist schildbürgerlich", findet Manfred Reindl. Er betreibt zusammen mit seiner Familie den Gasthof zur Post in Hinterriß, ein beliebtes Ausflugslokal im Herzen des Alpenparks Karwendel. "Wir können von Hinterriß die ganz BRD abfahren, da bei unserem Grenzübergang in der Vorderriß natürlich keiner kontrolliert, aber auf dem kürzesten Weg können wir nicht ins eigene Land fahren", beschreibt er.

Es gehe dabei weniger um die Lebensmittelversorgung, "weil wir alle gewohnt sind, uns nicht täglich versorgen zu müssen, sondern um Arztbesuche", betont Reindl. In dem Tal gebe es acht Personen über 80 Jahre, die auf eine häufige Versorgung durch Mediziner und Medikamente im Achental angewiesen seien. Symptome von Covid-19 zeige allerdings noch keiner.

Als noch Beamte den Grenzübergang kontrollierten, war die Anordnung deutlich: Ein- und ausreisen durfte, wer einen sogenannten "triftigen Grund" vorweisen konnte. "Darunter fallen zum Beispiel Deutsche, die heimkehren wollen, oder Berufspendler", erklärt ein Sprecher der Bundespolizeiinspektion Rosenheim, die für die Durchführung der Kontrollen am Achenpass zuständig war. Das aber ist mit dem Abzug der Beamten und der neuen Schranke nicht mehr möglich.

Nach Angaben von Reindl bemühe sich die Gemeinde Vomp gerade, die Situation an der Grenze zum Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen in den Griff zu bekommen. "Es wird sicher demnächst eine Lösung dafür geben", hofft der Gastwirt. Seinen bayerischen Nachbarn allerdings rät er zu einer größeren Vorsicht. Denn während sich sonst in Tirol so gut wie alle an die Ausgangssperre hielten, "geht's bei uns in Hinterriß zu wie immer", sagt er.

Viele Besucher hätten das schöne Wetter in der vergangenen Woche genutzt und seien von Bad Tölz-Wolfratshausen aus in die kleine österreichische Enklave gefahren, um dort noch Skitouren zu machen. Einzelne seien auch zum Langlaufen gekommen, zum Radfahren oder zum Spazierengehen. "Und die Motorräder und Sportwagen sind auch alle unterwegs", berichtet Reindl, "allesamt natürlich aus der bayerischen Umgebung." Seinen Gasthof samt Zimmer im Herzen von Hinterriß hat Reindl allerdings vorschriftsmäßig zugesperrt. Anvisierte Wiedereröffnung: 13. April.

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