Süddeutsche Zeitung

Bayerisches Brauchtum:Der Nachwuchsfischer

D'Buchbergler werden heuer 100 Jahre alt. Nikolaus Annaberger ist das letzte lebende Mitglied jener Heilbrunner Gebirgstrachtler, die nach dem Krieg das unter den Nazis verbotene Schuhplattln wieder anfangen haben

Von Viktoria Spinrad, Bad Heilbrunn

Wenn der Trachtler-nachwuchs mal wieder mit Verspätung eintrudelte, hatte Nikolaus Annaberger bereits mit dem Schlüssel vorgesorgt: Drinnen spielte die Musi, aber mit Unpünktlichkeit konnte Annaberger wenig anfangen. Die Kinder und Jugendlichen standen deshalb vor verschlossenen Türen. Sie konnten an die Scheiben klopfen oder rufen, es half nichts, da war Annaberger hart. Wer Teil der jungen Renaissance des Brauchtums sein wollte, der sollte gefälligst da sein, bevor das Akkordeon einsetzt.

Zuckerbrot und Peitsche - der heute 79-jährige Gründer der Jugendgruppe wusste, wie er den Trachtler-Nachwuchs des Gebirgstrachtenerhaltungsvereins D'Buchbergler in Bad Heilbrunn zu nehmen hatte. Etwas schelmisch sagt der Mann mit den wachen Augen und dem freundlichen Blick: "Ab da war'n sie pünktlich." Und das war wohl wichtig: Mit seiner harten aber herzlichen Herangehensweise bei der Brauchtumspflege legte er den Grundstein für die Nachwuchsarbeit des Vereins, der heuer 100 Jahre alt wird. Ein besonderes Jubiläum, das D'Buchbergler von diesem Donnerstag an feiern.

Als zwei Geschwister 1919 in einem Gasthaus in der Enzenau den Vorläufer des Trachtenvereins ins Leben riefen, waren Plattln, Volkstänze und Heimatabende vor allem den Erwachsenen vorbehalten. Dass dieses Brauchtum zumindest in Bad Heilbrunn sobald nicht aussterben wird, liegt auch an Annabergers Engagement in der Jugendarbeit: Mittlerweile zählt der Verein über 200 Mitglieder. Ein Fünftel davon sind Kinder und Jugendliche - was ein recht großer Anteil ist.

Auf dem kleinen Tischchen seines Balkons im Kienseer Bauernhaus schlägt Annaberger ein Fotoalbum auf und deutet auf ein Bild: Es zeigt ihn mit 15 Jahren in einer jungen Gruppe von Buam und Madln bei einer Fronleichnamsprozession. Hier beginnt die Geschichte des letzten Überlebenden der Nachkriegsplattler.

1954 begann Annaberger als 14-Jähriger eine Maurerlehre. Damals war nicht viel los im Heilbrunn der Nachkriegszeit: "Zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben", so sagt es Annaberger. Da kam der etwas ältere Nachbarsbub, zu fünft gingen sie rüber auf den Heuboden eines Bauern und machten das, was die Nazis verboten hatten: Sie plattelten - "aus Freud' an der Sach'", wie sich Annaberger erinnert. Vom Vorplattler lernten sie: gerade Haltung, Arme waagerecht, Füße zur Hand. Es war damals eher eine Frage der Disziplin - und gleichsam der Erhalt eines bayerischen Brauchtums.

Auch abseits des knarzenden Heubodens ploppten in der Umgebung wieder die alten Trachtenvereine auf. Zusammen bildeten sie den Loisachgau und begannen, sich beim Wertungsplattln zu messen. Das sportliche Engagement wuchs mit dem Ehrgeiz: Um sich drahtig zu halten, begannen die jungen Trachtler von 1968 an mit Skigymnastik. "Da ham's uns ausg'lacht", sagt Annaberger. Vehement verteidigt er das Plattln als Sport: "Wir waren gelenkiger als die Fußballer!"

Annaberger kam rum im Landkreis und in ganz Bayern - auch mit der Musikkapelle, die er mit anderen Trachtlern gründete. Ab sofort blies er das Tenorhorn. Trachtenverein, Musi, Feuerwehr, Sportverein - "das war früher so, da samma furt gekommen", sagt Annaberger. Der 79-Jährige steht jetzt in seinem Wohnzimmer und zeigt die Grundhaltung beim Plattln. Hände, Füße, Körper, Disziplin - wer nach vier, fünf Minuten nicht schwitzte, "der war a faula Hund". Dass auch die junge Garde ins Schwitzen kam, darum kümmerte sich Annaberger. Mit 34 Jahren gründete er 1974 eine Jugendgruppe und rekrutierte aktiv Nachwuchs: Er fuhr durch die Ortschaften und holte jungen Leute ins Boot.

Einer seiner Schützlinge war Anton Lindmair. "Der Nikolaus war wirklich ganz schön streng", sagt der heutige Vereinsvorsitzende. Gleichzeitig aber siebte Annaberger nicht nur nach Pünktlichkeit, sondern auch nach Motivation aus. Wer nur kam, weil die Eltern es wollten, wurde mit dem Appell heimgeschickt: "Komm wieder, wennst selber kemma wuist!" Und siehe da, viele kamen tatsächlich wieder - und fuhren erste Erfolge ein. Nach einem Jahr holte die junge Truppe beim Wertungsplattln im Loisachgau prompt den ersten Platz ein. Heimatabende, Auftritte vor Kurgästen - nun kam der immer zahlreichere Nachwuchs rum.

Sachte hebt Annaberger jetzt seine Tracht vom Kleiderständer: Lederhose, grüne Joppe, blaue Krawatte. Eines der 205 Mitglieder ist eine Schneiderin, die eigens Hand anlegt. Trachtler-Nachwuchs kann sich dadurch gleich ohne Unkosten aus der Vereins-Garderobe bedienen. Billig ist der Brauchtumserhalt trotzdem nicht: Für die Gewänder des Nachwuchses investierte der Verein zuletzt 20 000 Euro.

Die Mitglieder platteln, walzen und feiern weiter. Gaufeste, Auftritte, Fahnenweihe - früher wie heute sind die Trachtler immer in Bewegung - und werden immer jünger. Was der Trick dabei ist, dafür legte Annaberger zwischen manch eigenwilligem Nachwuchs-Plattler den Grundstein. Er sagt: "Man muss jeden einzelnen nehmen, wie er ist - dann is' a Gedicht!"

Die Festwoche zum 100. Geburtstag von D'Buchbergler beginnt am Donnerstag, 11. Juli, um 19.30 Uhr mit einem Bieranstich im Festzelt bei Oberenzenau. Das genaue Programm für die vier Tage steht unter www.festwoche-badheilbrunn.de

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Quelle:
SZ vom 11.07.2019
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