Benediktbeuern:Singen mit Suchtpotenzial

Lesezeit: 3 min

Beim Workshop "Venezianische Mehrchörigkeit" im Kloster Benediktbeuern wagen sich musikbegeisterte Laien an hochkomplexe Werke. Wie kann das gut gehen? Die Methode heißt Andrea Fessmann

Von Stephanie Schwaderer, Benediktbeuern

Olaf hat Probleme mit den Läufen zum hohen G. "Da hab ich Angst, dass mir die Power ausgeht", gesteht der große schlanke Mann. Martin Petzold kann ihn beruhigen. "Das ist wie bei einer Orgel", erklärt er. "Du musst darauf achten, dass am Anfang nicht zu viel heiße Luft durch die Stimmlippen geht, dann sind genügend Reserven da." Der Profi demonstriert, was sich mit einer tiefen Bauch-Flanken-Atmung und der richtigen Dosierung beim Ausatmen anstellen lässt. Ein langes Pfffffff, ein sehr, sehr langes Pfffffff erfüllt den Raum im Maierhof. Es klingt, als würde man ein ganzes Schlauchboot auslassen. In Olafs Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Dann nimmt er sich noch einmal die schwierige Passage vor: "Triumphat in coelis". Diesmal klappt es schon deutlich besser.

Martin Petzold, zum Kammersänger geadelter Tenor aus Leipzig, wirkt in dieser Woche als Stimmbildner im Kloster Benediktbeuern. Neben Erfahrung und vielen kleinen Tipps und Tricks bringt er Humor und Herzlichkeit mit. All dies verbindet ihn mit Andrea Fessmann, die den Workshop "Venezianische Mehrchörigkeit" im Namen des Vereins Klangkunst im Pfaffenwinkel zum wiederholten Male anbietet. Olaf und Rudi, deren Vornamen auf Wäscheklammern stehen, die sie sich an die Hemden gezwickt haben, sind diesmal die einzigen Tenöre - und so unterschiedlich, wie zwei Sänger sein können. Rudi ruht zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Füße hüftbreit im Boden verankert. Olaf neben ihm sitzt angespannt auf der Stuhlkante, hält das Notenblatt weit von sich gestreckt, bereit, sich mit aller Inbrunst in den nächsten Einsatz zu stürzen. Wenn sie singen, sollen sie zu einer Einheit verschmelzen. Die Gruppen-Stimmbildung hilft, diesem Ziel näher zu kommen.

Mit einer achtstimmigen Motette von Giovanni Croce steigen die Kursteilnehmer in die Woche ein. (Foto: Manfred Neubauer)

Kennengelernt haben sich die beiden auf dem Odeonsplatz in München, wo Andrea Fessmann zu Corona-Singverbot-Zeiten immer wieder zum Oratorium eingeladen hat. Dort haben sie gemeinsam gegen die Stille angesungen. Nun sind sie beide zu dem außergewöhnlichen Workshop angereist, der es Laien ermöglichen soll, in kurzer Zeit hochkomplizierte Chorliteratur aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu singen; strahlende Musik, die für feierliche Zeremonien im Markusdom in Venedig komponiert wurde. Außer Rudi und Olaf haben sich mehr als 60 Frauen und Männer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz dafür eine Woche frei genommen. Die jüngste Teilnehmerin ist 14, die Ältesten könnten ihre Urgroßeltern sein.

"Miau, miau, miau", singt Fessmann. Sie trägt ein buntes Seidenkleid und strahlt in die große bunte Runde, die sich im Allianzsaal eingefunden hat. Es ist kurz nach 17 Uhr, die zweite Zusammenkunft am ersten Workshoptag. Ein zigfaches fröhliches "Miau, miau, miau" ist die Antwort. Gemeinsam schrauben sich alle immer weiter in die Höhe. "Jetzt noch Lämpchen über den Mundwinkeln einschalten und über den Kopf ein Heiligenschein", ruft Fessmann, der Katzengesang wird noch leuchtender. "Sie hat eine große Motivationsgabe", sagt Christine, die zum neunten Mal beim Workshop dabei ist. "Es ist unglaublich, was sie uns entlocken kann, welche Klangerlebnisse sie erschafft."

Der Allianzsaal im Maierhof bietet einenstimmungsvollen Rahmen. (Foto: Manfred Neubauer)

Für den Einstieg nach der Auflockerung hat Fessmann eine Zehn-Minuten-Übung vorbereitet, mit der sie Grundlegendes verdeutlichen will. Jeder bekommt ein Blatt mit ein paar Noten und Psalm 104 ausgeteilt, "Lob des Schöpfers". Die elf Verse sollen im Wechselgesang zweier Gruppen intoniert werden - "so, wie es bis heute in Klöstern praktiziert wird", erklärt Fessmann. Die Kunst, die Pausen richtig zu setzen, bestehe darin, den Atem ruhig fließen zu lassen. Und tatsächlich, bei Vers fünf schwingen sich die Sängerinnen und Sänger allmählich ein, der nahezu monotone Gesang gewinnt an Tiefe und Klarheit, erlangt etwas Meditatives.

Von hier ist es ein gewaltiger Sprung zu Giovanni Croce und seiner achtstimmigen Motette "Laudans exultet gaudio" - ein Werk, das sich die Kursteilnehmer am Morgen erstmals vorgenommen haben. Was lässt sich in zweieinhalb Stunden erarbeiten? Die achtseitige Partitur gleicht in den Augen Uneingeweihter einem Rätselheft. In den Gesichtern der Kursteilnehmer indes spiegelt sich Vorfreude. Zunächst einmal muss jede und jeder die richtige Position finden. Beim mehrchörigen Singen stehen die Chorgruppen an verschiedenen Stellen im Raum verteilt.

"Das Singen hat uns durch die schwere Zeit getragen": Andrea Fessmann, hier bei einem Workshop im Kloster Benediktbeuern. (Foto: Manfred Neubauer)

Dann kehrt konzentrierte Ruhe ein. Fessmann setzt sich an den Flügel, schlägt ein paar Töne an, gibt den Einsatz, singt und dirigiert mit dem ganzen Körper. Eine beeindruckende Klangwolke baut sich auf, erfüllt den Raum von allen Seiten. Auch wenn noch lange nicht jeder Ton sitzt und es bei den noch Einsätzen ruckelt - da wächst gerade ein mächtiger Klangkörper zusammen, beginnt zu atmen, etwas Ungreifbares, Starkes, das einen einhüllt und trägt. Etwas, "das süchtig macht", sagt Fessmann.

Vorne links lassen immer wieder die Tenöre leuchtende Akzente erstrahlen. Olaf hat Power. Und jede Stimme zählt.

"Venezianische (und mehr) Mehrchörigkeit": Abschlusskonzert am Samstag, 21. August, im Maierhof, Kloster Benediktbeuern, Beginn 17 Uhr, nur bei schönem Wetter, weitere Infos unter www.klangkunst-im-pfaffenwinkel.de

© SZ vom 19.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: