Begegnungen in Wolfratshausen:Anti- Faschismus

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Wie steigt man als Leser am besten ein in die anspruchsvolle Tetralogie? Albert von Schirnding empfiehlt: Das Eingangskapitel überspringen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Albert von Schirnding spricht über Thomas Manns "Josephsromane"

Von Julie Heiland, Wolfratshausen

Sechzehn Jahre lang hat Thomas Mann an der biblischen Tetralogie "Joseph und seine Brüder" gearbeitet. Insgesamt rund zweitausend Seiten umfassen die vier Bände. "Ein richtiger Brocken", wie Albert von Schirnding scherzt. Der Schriftsteller und Altphilologe ist am Montag zu Gast bei den "Begegnungen" der evangelischen Kirche Sankt Michael in Wolfratshausen. Unter dem Titel "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit" spricht er über Thomas Manns Josephsromane als Gegenentwurf zur Inhumanität des Faschismus.

Die Josephsromane sind die im Vergleich zu Thomas Manns anderen Hauptwerken wohl am wenigsten bekannten und gelesenen. Schirnding gelingt es, den etwa vierzig Gästen das gewaltige Opus nahezubringen, dessen erster Band in jenem Jahr erschienen ist, in dem Hitler an die Macht kam. Vollendet hat Thomas Mann die Tetralogie im kalifornischen Exil. Vorangestellt ist dem ersten Teil die etwa 50-seitige "Höllenfahrt", eine Vorspiel, das mehr Herausforderung sei als Einladung weiterzulesen, sagt Schirnding. Seine Empfehlung an potenzielle Leser: Die "Höllenfahrt" erst einmal überspringen.

Mit jenen vier Bänden lässt Thomas Mann die Welt der Väter des Alten Testaments neu entstehen. Sie erzählen von Joseph, Jakobs verehrtem Sohn, der zur Arroganz neigt, und den seine Brüder deshalb zur Strafe in einen Brunnen werfen. Er wird gerettet, nach Ägypten gebracht, wo er als Traumdeuter des Pharaos Ruhm und Ehre erlangt, und söhnt sich mit seinen Brüdern aus. Mit "Joseph, der Ernährer" münde die Tetralogie in eine echte "Success Story", wie Schirnding resümiert. Parallelen zu Franklin D. Roosevelt und seiner New-Deal-Politik, von der Thomas Mann viel hielt, lägen nahe. Zudem stecke in Josephs Heldenreise, während der er Höhen und Tiefen durchlebt, das "Sterben-und- Werden-Motiv", das bereits in Urmythen zu finden sei und in dem sich der Jahresrhythmus spiegle.

Entstanden sei die Tetralogie in einer Epoche forcierter politischer Remythisierung. Thomas Mann habe den Mythos mit den Josephsromanen "humanisieren" und ihn nicht dem faschistischen Denken überlassen wollen. Ihn habe die individualpsychologische Dimension des Mythischen interessiert, das Typische in einem menschheitlichen Sinn, das sich im Lauf der Jahrtausende wiederholt. So kann beispielsweise die Geschichte Kain und Abels als Paradigma für den Bruderkonflikt in den Josephsromanen gesehen werden.

Erzählt werde in den vier Bänden jedoch nicht allein die Lebensgeschichte von Joseph, seinen Brüdern, ihrem Vater Jakob und dessen Frauen, sondern zudem nichts Geringeres als die Entdeckung Gottes. Joseph fühle sich als Kind dieses Gottes im Himmel, der allein auf geistigem Weg erfahren und verehrt werden kann, während Pharao Echnaton noch auf einen innerweltlichen Gott schwöre, auf den Sonnengott. "Joseph und seine Brüder" erzähle die menschheitsgeschichtliche Genese, virtuos und teils drastisch von Thomas Mann fabuliert, und damit echte "Menschheitsdichtung", so Albert von Schirnding.

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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