Zeitgeschichte im Oberland„Mir zenen frei“

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In der Kurve kurz vor dem Iffeldorfer Ortsteil Staltach blieb am 30. April 1945 ein Güterzug liegen, mit mehr als zweitausend entkräfteten KZ-Häftlingen. Wie sie befreit wurden und was das mit dem Dorf machte, hat Hans-Gunther Hoche recherchiert.
In der Kurve kurz vor dem Iffeldorfer Ortsteil Staltach blieb am 30. April 1945 ein Güterzug liegen, mit mehr als zweitausend entkräfteten KZ-Häftlingen. Wie sie befreit wurden und was das mit dem Dorf machte, hat Hans-Gunther Hoche recherchiert. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Eine Woche vor Ende des Zweiten Weltkriegs strandet ein Güterzug in Iffeldorf. Er transportiert mehr als zweitausend KZ-Häftlinge, die von US-Truppen befreit und im Dorf untergebracht werden. Nach jahrelanger Recherche legt Hans-Gunther Hoche nun ein Buch zum Thema vor, spannend und informationsreich.

Von Paul Schäufele, Iffeldorf

Dort in dem Haus mit der Fassadenverzierung sei die Post gewesen. Und dort, in dem stattlichen Haus mit dem dunklen Balkon: „Da hat der Kurek gewohnt“, sagt Hans-Gunther Hoche. „Einer der wenigen, die einen persönlichen Kontakt zu den Iffeldorfern aufgebaut haben.“ Auch diese Häuser hätten damals schon gestanden, erklärt Hoche. Damals, als ein überfüllter Güterzug in der Kurve unmittelbar vor der Station Staltach anhielt, am 30. April 1945. Doch der Zug transportierte kein Holz und keine Kohlen, sondern Menschen. Etwa 2400 jüdische KZ-Häftlinge wurden an diesem Tag von US-amerikanischen Soldaten befreit und für die darauffolgenden Wochen in der Gemeinde untergebracht. Dieses Kapitel aus der Schlussphase der NS-Zeit beschäftigt Hans-Gunther Hoche seit Jahren. Nun legt er das Ergebnis seiner Recherche vor: eine konzise, plastische, quellengesättigte Rekonstruktion der Ereignisse unter dem Titel „Moses in Iffeldorf“.

Dass der Zug neben dem Bahnhof des Iffeldorfer Ortsteils Staltach zum Stehen kam, war dem Zufall geschuldet. Ein Stromausfall sorgte dafür, dass der Transport sein anvisiertes Ziel nicht erreichte – die Häftlinge des KZ-Außenlagers Allach sollten ins Ötztal gebracht werden, als Zwangsarbeiter und menschliche Schutzschilde, um Bombardierungen des Tiroler Tals zu verhindern. Hinter ihnen lag eine mehrtägige Fahrt, auf der die Männer nicht aufrecht stehen konnten, Regen und Wind auf offenen Wägen ausgesetzt waren, sich sechzig pro Waggon einen Eimer für die Notdurft teilen mussten. Viele Häftlinge überlebten die Fahrt nicht.

„Ich habe mich des Themas angenommen, weil es sonst keiner gemacht hat“, sagt Hans-Gunther Hoche, hier bei einer Ortsbegehung in Iffeldorf im Bereich der Hofmark.
„Ich habe mich des Themas angenommen, weil es sonst keiner gemacht hat“, sagt Hans-Gunther Hoche, hier bei einer Ortsbegehung in Iffeldorf im Bereich der Hofmark. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Route des Zugs, die teils unerklärlichen Halte, das Hin- und Herfahren zeichnet Hoche minutiös nach, in sachlichem, objektiv schilderndem Ton. Dennoch könnte die Darstellung packender nicht sein, was vor allem an der multiperspektivischen Konstruktion des Berichts liegt. So beschränkt sich der Autor nicht auf eine lineare Ausführung der Geschichte. Er beschreibt den Weg des Transports nach Staltach, unterbricht diesen Ereignisstrang aber immer wieder durch Skizzierungen des Wegs der alliierten Kräfte. KZ-Transport und US-amerikanische Truppen bewegen sich aufeinander zu.

„Und ich zittere immer noch, wenn ich, wenn ich versuche, das zu erzählen. Wir lagen herum, es war uns ziemlich egal. Wissen Sie, es herrschte eine solche Apathie und… und dann schrie jemand: Die Amerikaner!“, zitiert Hoche den Häftling Imre Grünbaum. „Mir zenen frei!“ rufen andere Häftlinge auf Jiddisch. Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die dem Text eine polyfone Spannung geben. Den Opfern wird die Möglichkeit gegeben, zu sprechen, aber auch den Iffeldorfern, die Hoche selbst befragt hat. Daneben immer wieder Auszüge aus militärischen Dokumenten oder persönlichen Schriften wie dem Tagebuch der Resi Karl. „Nachmittag vier Uhr kamen die USA Panzer ohne Widerstand ins Dorf. Innerhalb einer Stunde mussten wir das Haus räumen. Wir zogen zur Großmutter. Gut Rettenberg ist abgebrannt.“ Das Tagebuch bereichert den Report mit seiner Lakonie. In äußerster Verknappung entsteht so eine Sicht aus dem Innern des Dorfes, die sich in den Chor aus US-Soldaten, Häftlingen und Nazis mischt.

Die chaotische Unterbringung der Häftlinge im Dorf entfaltet Hoche schonungslos präzise

Zum Tag nach der Befreiung schreibt Resi Karl, an deren Tagebuch Hoche über eine Verwandte der Iffeldorferin kam: „Sehr viel Schnee. USA zogen von unserem Haus wieder weg und KZ rein. (…) Hatten lange Zeit kein Licht und sehr wenig Wasser.“ Die chaotischen Umstände der Unterbringung der Häftlinge im 900-Seelen-Dorf von 1945 entfaltet Hoche schonungslos präzise. Von einer Entlausungsaktion auf dem Iffeldorfer Vitusplatz ist die Rede, vom Ausbruch des Typhus und vom Durchfall der Häftlinge und damit einhergehenden unsäglichen hygienischen Bedingungen in einem Dorf, dessen Wasserversorgung unregelmäßig funktionierte.

Aber auch Begegnungen unerwarteter Wärme kommen durch zahllose Zeitzeugen-Interviews ans Licht. So erzählte Sophie Schweiger dem Autor, dass ihre Mutter zwei Häftlingen das Rasierzeug ihres im Krieg gefallenen Mannes geliehen habe. Einer von ihnen habe ihr daraufhin eine Tafel Schokolade des Roten Kreuzes, die er sich aufgespart hatte, geschenkt. Daneben stehen Episoden von Endphaseverbrechen, wie die Ermordung des NS-Gegners Erwin Steiger durch die SS, oder das Schicksal von Raubkunst im Gut Staltach. „Moses in Iffeldorf“ ist damit viel mehr als ein wichtiger Beitrag zur Regionalgeschichte. Es ist ein Gesellschaftspanorama in der dörflichen Nussschale, das die letzten Tage der NS-Zeit aus ineinander verschränkten Perspektiven begreiflich macht.

Der St.-Vitus-Platz in Iffeldorf sieht heute noch fast genauso aus wie an dem Tag vor 80 Jahren, als die Realität der Schrecken des Nazi-Regimes jäh in das idyllische Dorf kam.
Der St.-Vitus-Platz in Iffeldorf sieht heute noch fast genauso aus wie an dem Tag vor 80 Jahren, als die Realität der Schrecken des Nazi-Regimes jäh in das idyllische Dorf kam. (Foto: Harry Wolfsbauer)

„Ich habe mich des Themas angenommen, weil es sonst keiner gemacht hat“, sagt Hoche. Nach einer Chorprobe im Jahr 2010 habe eine Mitsängerin einmal jüdische Grabstätten erwähnt, die es in Iffeldorf gegeben haben soll. Damit begann die Recherche. „Es kann nicht sein, dass das niemand weiß“, habe er sich gedacht und begonnen zu fragen. Aber: „Mit jeder Frage öffneten sich zwei weitere Fragen.“ Bis heute ist das so. Vieles bleibt ungeklärt, Widersprüche versucht Hoche auch nicht aufzulösen, vielmehr stellt er in seinem Buch nebeneinander, kommentiert, zwingt aber keine Deutung auf.

Etwa fünfzehn Jahre hat ihn das Thema beschäftigt. Er hat Archive ausgewertet, Zeitzeugen befragt, Quellen gesammelt, die Ortsgeschichte studiert. Zu jedem Haus der Iffeldorfer Hofmark, der Hauptstraße der Gemeinde, weiß Hoche etwas zu sagen. Doch viele Quellenfunde verdankt er dem Zufall. So sei ihm beim Auswerten einer Zeitschrift der Leserbrief einer gewissen Lilly Levinson aus Brooklyn aufgefallen, in dem von Iffeldorf die Rede war. Er ging zur Münchner Hauptpost, ließ sich das Telefonbuch von New York geben und schrieb den fünf dort verzeichneten Lilly Levinsons einen höflichen Brief. Eine reagierte. „Sie hat mir dann gesagt, dass sie fast ohnmächtig geworden ist, als sie die Iffeldorfer Absender-Adresse gesehen hat.“

Im Haus des damaligen Bürgermeisters Reinhart kamen nach Hoches Recherchen im ersten Stock US-Soldaten unter und unter dem Dach befreite jüdische Häftlinge.
Im Haus des damaligen Bürgermeisters Reinhart kamen nach Hoches Recherchen im ersten Stock US-Soldaten unter und unter dem Dach befreite jüdische Häftlinge. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Mit Erscheinen des Buches geht ein Abschnitt für ihn zu Ende. Was er gefühlt habe, als er sein Werk in Händen hielt? „Es war Erleichterung. Jetzt atme ich durch.“ Zwischendurch hat Hoche, der kein ausgebildeter Historiker ist, sondern in der Flugtouristik gearbeitet hat, Pause machen müssen von der emotional aufwühlenden Arbeit. „Das geht nicht spurlos an einem vorüber“, sagt er. Und doch weigert er sich, ganz von seinem Projekt zu lassen. Immer noch gebe es Interviews im Münchner Institut für Zeitgeschichte, die er gerne anhören würde. Immer noch sammelt er Informationen, die er für einen Vortrag verwenden möchte.

Hoche weiß, warum er das Buch geschrieben hat. „Die Episode gerät sonst in Vergessenheit und dadurch auch in eine verzerrte Wahrnehmung und wird manipuliert. Die Äußerung, dass diese Zeit ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte sei, ist eine ganz furchtbare Verzerrung.“ Nach einem seiner Vorträge zum Thema habe ihn ein Mann gefragt: „Kann man das nicht ruhen lassen?“ Hoches Antwort: „Nein, ich habe es ja erst aufgeweckt.“

Hans-Gunther Hoche, Moses in Iffeldorf, 178 Seiten, Hartung-Gorre Verlag Konstanz, 19,95 Euro

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