Süddeutsche Zeitung

Bedrohlicher Stress:"Ich musste einfach heulen"

Andreas Wagner, Bundestagsabgeordneter der Linken, spricht über die Überlastung, die bei ihm zu einer Anpassungsstörung geführt hat. Heute macht er Termine mit sich selbst aus, um sich Erholungsphasen zu sichern.

Von Felicitas Amler

Das Publikum lacht sich schlapp, wenn die "Heute-Show" einen ihrer Spaßmacher in die Flure des Bundestags schickt, um Abgeordnete mit scheinbar einfachen Fragen zum politischen Geschäft zu konfrontieren, die sie nicht, nur stotternd oder falsch beantworten. Witzig? Andreas Wagner, seit 2017 für die Linke im Bundestag, hofft, nie in eine solche Falle zu tappen. Er ist überzeugt: Ein Abgeordneter kann unmöglich auf alles eine Antwort wissen. Und er weiß, wohin der Versuch führt, allem gerecht zu werden. Ende vorigen Jahres musste der Geretsrieder eine Pause einlegen. Diagnose: Überlastung. Die SZ sprach mit dem verheirateten 47-jährigen Heilerziehungspfleger und Vater von drei Kindern.

SZ: Herr Wagner, wann wussten Sie, dass Sie Ihre eigene Belastungsgrenze überschritten hatten? Wie fühlte sich das an?

Andreas Wagner: Ich kam ins Büro und musste einfach heulen, ohne zu wissen, warum. Und da fühlt man sich irgendwie handlungsunfähig.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe erst mal die Termine abgesagt und bin zur Parlamentsärztin gegangen.

Hatten Sie in dem Moment irgendeine Ahnung, warum Sie weinen?

Ja, das war schon... (zögert) -, es war einfach zu viel.

Können Sie rückblickend sagen: Wie lange hatte sich diese Überlastung abgezeichnet? Hatten Sie Signale übersehen?

Es war immer so ein bisschen ein Auf und Ab, was die Stimmung betraf. Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte es merken müssen, weil ich schwer abschalten konnte. Ich war relativ lang im Büro, und ich hatte wenig Schlaf, da kommt man auch mal in ein Stimmungstief rein. Ich habe nicht für genug Schlaf gesorgt, ich habe zu wenig für Ausgleich gesorgt, ich habe unregelmäßig gegessen, teilweise auch zu wenig.

"Ich bin im Stress" ist heutzutage unter Berufstätigen sicher einer der meistgeäußerten Sätze. Wann kippt der alltägliche Stress ins Krankmachende?

Wenn es ein negativer Stress ist, wenn man das Gefühl hat, man kann die Erwartungen nicht mehr erfüllen oder den Aufgaben nicht gerecht werden. Wenn man einen hohen Anspruch an die eigene Arbeit hat und gleichzeitig denkt, andere haben eine Erwartung, die nicht ausgesprochen wird - dann macht man sich Druck.

Hatten Sie diesen Druck vor dem Bundestag, in Ihrer Berufstätigkeit auch, oder kam der erst mit der Politik?

Hatte ich vorher nicht. Das ist mit dem Mandat gekommen. Es ist eine andere Situation, wenn man auf einmal Person des öffentlichen Lebens ist. Man möchte allem gerecht werden. Den gefühlten Druck durch die Öffentlichkeit, den hatte ich vorher in meinem Beruf nicht.

Wie hieß die Diagnose nach Ihrem Zusammenbruch?

Anpassungsstörung. Das bedeutet, dass die Anforderungen auf der einen Seite und die Bewältigungsstrategien auf der anderen nicht in einem guten Verhältnis sind.

Ist das knapp am Burnout vorbei?

Meine Ärztin sagte mir, wenn ich so weitermachen würde, bestünde die relativ große Gefahr, dass ich ins Burnout käme. Es ist ein sehr starkes Gefühl der Überforderung mit Stimmungstiefs, während beim Burnout ja ein Gefühl der ganz tiefen Leere, des Ausgebranntsein, der Handlungsunfähigkeit gegeben ist.

Nachdem Sie bei der Parlamentsärztin waren haben Sie die Fraktion informiert. Wie war die Reaktion?

Verständnis.

Mit wem haben Sie gesprochen?

Ich habe Dietmar Bartsch informiert als Fraktionsvorsitzenden und auch mit Kollegen gesprochen.

Dann sind Sie nach Hause gefahren. Hatte Ihre Frau, Ihre private Umgebung geahnt, dass so etwas passieren könnte?

Dass es sehr belastend ist und ich in Stimmungstiefs gekommen bin, das hat man natürlich schon gemerkt.

Wie ging's weiter?

Mein Hausarzt hat mich krankgeschrieben. In der Zwischenzeit habe ich einen Termin in Berlin vereinbart, mit einer Fachärztin für Psychosomatik. Sie hat mir empfohlen, erst einmal rauszugehen aus dem politischen Tagesgeschäft. Meine Ärztin hat gemeint, ich soll mir überlegen, ob ich mir eine Kurzzeittherapie vorstellen kann. Dafür habe ich mich dann auch entschieden.

Was haben Sie in der Therapie gelernt?

Besser für mich zu sorgen. Was auch bedeutet: Ich kann entscheiden, was ich mache. Das heißt, dass ich Nein sage, wenn ich merke, etwas ist nicht erforderlich oder ich komme an die Belastungsgrenze. In der Kurzzeittherapie hatte ich unter anderem Psychotherapie, Liegekur, Tanztherapie, Gymnastik und Sport.

Was haben Sie noch mitgenommen?

Den Anspruch an mich selbst etwas herunterzuschrauben. Bei mir haben sich so Glaubenssätze festgesetzt: Ich darf keinen Fehler machen. Oder: Ich muss perfekt sein. Jetzt habe ich mir vorgenommen, mit Mut zur Lücke zu arbeiten.

Wie zieht man das konsequent durch?

Ich habe jetzt Termine mit mir selbst ausgemacht. Ich habe Zeiten, in denen ich Arbeit habe. Und ich brauche Zeiten, in denen ich mich regenerieren kann. Die sind für mich dann auch nicht diskutabel. Ich brauche sie, um Kraft und Energie zu sammeln, um dann anständig politische Arbeit machen zu können. Das stärkt gleichzeitig das Gefühl, dass man handlungsfähig ist. Davor hat es sich so angefühlt wie in einem Hamsterrad, man funktioniert nur noch, als ob man fremdgesteuert wird. Wenn man sich Zeiten reserviert, gewinnt man Handlungshoheit.

Gibt es bestimmte Dinge, die Sie sich vorgenommen haben: Sport oder Kultur?

Ich hatte mir vorgenommen, Tischtennis zu spielen, bloß trifft sich die Tischtennis-Gruppe im Bundestag zu einer Zeit, wo wir Fraktionssitzung haben. Aber es sind so Kleinigkeiten, die man im Alltag integriert. Mein Büro ist im vierten Stock, ich bin bisher immer mit dem Aufzug gefahren, jetzt gehe ich zu Fuß. Zwischen Wohnung und Büro in Berlin mache ich alles mit U- und S-Bahn, da gehört auch der Weg zur U-Bahn-Station - oder auch mal ein Umweg - zum Bewegungsprogramm. Dass man sich direkt private Termine vornimmt, ist schwierig, weil man nie weiß, was für ein wichtiger politischer Termin kommt, und weil alles ziemlich eng getaktet ist.

Sie sind von Anfang an sehr offen, geradezu offensiv mit Ihrer Erkrankung umgegangen, haben auf Facebook gepostet, wie es um Sie steht. Warum?

Zum einen wollte ich eine Transparenz schaffen, warum ich aus dem politischen Geschäft draußen bin. Da hat es etliche namentliche Abstimmungen gegeben, ich wollte, dass man einordnen kann, warum ich daran nicht teilgenommen habe. Und ich sehe das auch so: Wenn man psychisch angeschlagen ist, ist das nichts Schlimmeres, als wenn man sonst krank ist. Die Linke setzt sich dafür ein, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass psychische Belastungen und alles, was zu Stress und letztlich zu Burnout führen kann, reduziert werden. Für mich gehört dazu auch, dass man offen über solche Erkrankungen spricht. Man muss sich deshalb nicht verstecken.

In einem Ihrer ersten Posts zu diesem Thema schrieben Sie auf Facebook: "Es ist nicht in erster Linie die Arbeitsmenge und die Tatsache, dass man mit der politischen Arbeit nie fertig wird, was bei mir zu einer Überlastung geführt hat, sondern die politische Realität, die mich eingeholt hat und die sich mit meiner Vorstellung von der Zusammenarbeit in einer Partei, die nach außen für Solidarität, Vielfalt, Toleranz und ein friedliches Miteinander steht, nicht deckt." Sehen Sie das heute noch so?

Ja.

Das war natürlich sehr plakativ, allgemein gefasst. Es gibt sehr viele Genossinnen und Genossen, mit denen die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert und die politische Arbeit auch Spaß macht. Gleichzeitig habe ich allerdings mitbekommen, dass bei unterschiedlichen Ansichten, Differenzen in der Einschätzung von politischen Sachverhalten der Umgang nicht immer solidarisch ist.

Sie haben sich öffentlich mit der Linken-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht solidarisch erklärt, und Sie teilen wesentliche Positionen. Nun hat sich Wagenknecht offenbar ebenfalls mit der Politik gesundheitlich übernommen.

Die Nachricht, dass Sahra Wagenknecht nicht mehr für den Fraktionsvorsitz kandidieren wird, hat mich sehr getroffen. Gleichzeitig habe ich großen Respekt vor ihrer Entscheidung. Es ist sehr anstrengend, sich permanent in Konfliktsituationen zu bewegen. Jeder Konflikt macht, wenn er nicht wohlwollend ausgetragen wird, über einen längeren Zeitraum krank. Und wenn so ein Konflikt dann auch noch persönlich ausgetragen und über Medien gespielt wird, erschwert es das Ganze zusätzlich. Sahra Wagenknecht und andere sind zum Teil wegen politischer Meinungen in AfD-Nähe gerückt worden. Das geht einfach gar nicht. Da geht es nicht mehr darum, gemeinsam inhaltliche Differenzen zu klären, sondern jemanden zu diskreditieren. Und da sage ich: Das ist kein solidarisches Verhalten.

Sie sprachen von vermuteten Erwartungen anderer. Was war Ihre eigene Erwartung an sich als Bundestagabgeordneter?

Etwas zu bewegen. Etwas in Richtung eigener politischer Ziele und Ideale anzuschieben. Und den Job gut zu machen im Sinne von: Ich möchte wissen, was ich tu und worüber ich entscheide.

Was ist Ihr wesentliches Motiv, professionell Politik zu machen?

Ich möchte einen persönlichen Beitrag leisten für eine gerechte, solidarische, friedliche Gesellschaft, in der die Menschen gut zusammenleben, wo sich alle aufgehoben fühlen, alle mitgenommen werden.

Ist das vielleicht an sich schon eine Überforderung?

Es ist eine Vision. Visionen sind wichtig. Natürlich muss man dann schauen, was tatsächlich realistisch erreichbar ist.

Und was war Ihr Gefühl, was die anderen noch alles erwarten, die Öffentlichkeit?

Auf der einen Seite bekommt man als Abgeordneter sehr viele Einladungen, von Verbänden, Organisationen, Interessengruppen; auf der anderen Seite natürlich E-Mails, Briefe von Bürgerinnen und Bürgern. Und mein Anspruch war, ich möchte alle irgendwie zufriedenstellen.

Sie haben zwei Büros, eins hier in Geretsried, eins in Berlin. Das kann man ja schon logistisch nicht alles selbst bewältigen.

Gerade was die Termine betrifft, habe ich am Anfang gemeint, ich muss viel wahrnehmen, habe dann aber gemerkt, dass ich nicht zur eigentlichen Arbeit komme. Ich habe jetzt für mich entschieden - das ist auch ein Ergebnis der letzten Monate -, Termine sehr ausgewählt wahrzunehmen.

Wie viele Stunden hatte Ihr Arbeitstag vor dem Bundestag und danach?

Vorher durchschnittlich fünf Stunden, dann durchschnittlich zwölf. Ich habe vorher Teilzeit gearbeitet und habe sehr viel Zeit für ehrenamtliche Aktivitäten genutzt, in der Friedensinitiative, in der Partei, in der Gewerkschaft. Und ich hatte sehr viel mehr Zeit für Familie und was alles im Haushalt ansteht, vom Einkaufen übers Putzen bis zum Garten, habe ich mit meiner Frau aufgeteilt.

Und in Berlin, was haben Sie sich da an Freizeit gegönnt?

Kaum Freizeit.

Sie sind Obmann der Linken für Öffentlichen Personen-Nahverkehr und Fahrradmobilität. Wie oft sind Sie da gefragt?

Im vergangenen Monat habe ich drei Reden im Plenum gehalten. Über Elektromobilität, Elektro-Kleinstfahrzeuge und die Frage der Überwachung von Fahrverboten in den Städten. Im Ausschuss bin ich regelmäßig mit Stellungnahmen gefragt.

Kann sich ein Abgeordneter in jedes anstehende Thema einarbeiten?

Ich habe meinen Mitarbeiter mal gebeten, er soll mir alle Unterlagen, die in einer Verkehrsausschuss-Sitzung behandelt wurden, zusammenstellen. Das war dann ein Leitz-Ordner, also fast 500 Blatt. Es ist unmöglich, dass man sich das alles anschaut.

Was also ist die Strategie?

Funktioniert nur mit Mut zur Lücke. Und dass man sich auf das Thema konzentriert, das man im Ausschuss dann behandelt.

Wie sieht Ihre politische Woche aus?

Ich fahre Sonntagmittag mit dem Zug nach Berlin, gehe dort essen. Der Montag ging meisten so bis 22 Uhr, je nachdem, welche Abendtermine ich wahrgenommen habe. Am Dienstag ähnlich. Auch wenn dann keine Abendveranstaltung war, war ich oft bis um zehn im Büro. Mittwoch ähnlich. Donnerstag gehen die Plenumssitzungen schon mal bis um eins oder halb zwei. Am Freitag ist Plenum meist bis 15 oder 16Uhr, dann fahre ich wieder heim. Der Samstag ist dann frei, und am Sonntagmittag fahre ich mit dem Zug wieder nach Berlin.

Am Samstag schnaufen Sie durch?

Den verbringe ich in der Regel in der Familie, und den halte ich auch frei. Denn es gibt ja auch hier immer noch eine Veranstaltung, eine Demo, ein Treffen der Partei... Da steht man vor der Frage: Nimmt man sich diesen Tag frei, um aufzutanken, oder nimmt man noch Termine wahr?

Würden Sie sagen, Sie haben etwas von Ihrer Gesundheit der Politik geopfert?

Nein, geopfert nicht. Ich habe jetzt herausgefunden, wo meine Grenzen liegen. Von daher kann ich auch mit zukünftigen Herausforderungen besser umgehen. Wenn ich Politik für die Menschen machen möchte, muss ich in einem Zustand sein, dass ich das gut machen kann. Es hilft gar nichts, wenn ich meine, ich müsste und müsste und müsste... - und dann ist der Akku leer und es funktioniert nichts mehr. Es ist sehr viel sinnvoller, dass ich mit meinen Kräften haushalte und gut für mich sorge, damit ich gute Politik machen kann.

Hatten Sie, als es Ihnen sehr schlecht ging, das Gefühl, Sie wollten aufhören mit der Politik?

Nicht ernsthaft. Wenn noch etwas dazugekommen wäre ...

Sie haben rechtzeitig die Notbremse gezogen?

Ja. Und Sie wollen für eine zweite Legislaturperiode kandidieren?

Die Zeit rast ja. Nächstes Jahr im Herbst wird sich die Frage stellen. Ich habe für mich entschieden, dass ich mich jetzt nicht irgendwie durch die Wahlperiode durchschleppe, um sie zu überstehen. Ich will gute Politik für diejenigen machen, die mich gewählt haben, und alles, was ich jetzt mache und lerne, mache ich und lerne ich mit der Absicht, in einer zweiten Wahlperiode weiter Politik zu machen. Das ist mein Ziel.

Was ist das Wichtigste, was Sie durch die Erkrankung erfahren haben?

Mir ist noch mal so richtig deutlich geworden, wie wichtig im Leben Freundschaft und Familie sind.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2019/aip
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