Zwei Baggerschaufeln mit großen Zähnen graben sich in den Kies. Die Schaulustigen spüren Erschütterungen unter ihren Füßen. Es kracht. "Das sind die Steine, die man da hört", sagt Bernd Küster, Bauleiter der Opitz Großbaumverpflanzungen. Am Dienstag hat das Unternehmen aus Heideck in Bad Tölz mit Spezialgerät den neun Meter hohen Kastanienbaum an der Kreuzung Jahnstraße/Höhenbergweg samt Wurzelstock aus dem Boden gehoben und ihn dann zehn Meter weiter wieder eingepflanzt. Eigentlich sollte die Kastanie mit ihrem Stammumfang von 130 Zentimetern im Zuge der Neugestaltung der Kreuzung gefällt werden. Doch Anwohner wollten den Baum erhalten und setzten sich gemeinsam für seine Umsetzung ein.
Die Schaufel in Form einer halben Kugel mit drei Metern Durchmesser gräbt sich immer tiefer in die Erde. "Weil der Boden hier sehr verdichtet ist, muss sie mehrmals hineingreifen", erklärt Küster. Die Hinterräder des 40-Tonners, an dessen Heck die Maschine befestigt ist, hängen in der Luft, so groß ist der Druck, mit dem die Stahlkanten Wurzeln und Steine durchtrennen. Es kommt der Punkt, an dem sich die Schaufel unter der Kastanie schließt. Die Eisenhalbkugel ist fast vollständig im Boden versenkt, einen kurzen Moment langt herrscht Stille. Dann heben die hydraulisch gesteuerten Arme der Maschine den Baum aus dem Boden in die Luft und über die Ladefläche des Lastwagens - sechs Kubikmeter Erde, Wurzelwerk und Kastanie. Das Loch, aus dem der Baum gehoben wurde, zeigt oben eine dünne Humusschicht, darunter Schotter und oben Lehm. Nur durchtrennte Wurzeln an der Oberfläche erinnern daran, dass hier gerade noch eine fast 40-jährige Kastanie stand.
Der fünfjährige Poldi und sein Vater Peter Kreitmeir verfolgen die spektakuläre Umsetzung per Videochat aus dem Urlaub. Poldi hat den Stein ins Rollen gebracht: Als er erfuhr, dass seine Lieblingskastanie gefällt und durch zwei junge Bäume ersetzt werden sollte, fragte er, ob man sie nicht umpflanzen könne. Sein Vater recherchierte im Internet und machte die Opitz GmbH ausfindig. Europaweit seien sie der einzige Betrieb, der Großbaumverpflanzungen anbiete, sagt Küster. Dafür begeistern sich auch Michaela und Frank Dorfmeister, die Organisatoren der Tölzer Rosentage, die in der Nachbarschaft wohnen. Sie richteten ein Spendenkonto ein und bürgten für den Fall, dass nicht genug Geld zusammenkommt. Umsetzung und Nachpflege kosteten 12 000 Euro, sagt der Grünen-Stadtrat Johannes Gundermann, der auf eine finanzielle Unterstützung der Stadt hofft. Die wird es nach Auskunft von Rathaussprecherin Birte Otterbach auch geben, da sich die Finanzierungslücke mit dem Betrag decke, den Fällung und Neupflanzung gekostet hätten.
Im Zuge des Ausbaus der Bairawieser Straße gestaltet die Stadt die Kreuzung mit dem Höhenbergweg und der Jahnstraße um. Der Höhenbergweg trifft künftig geradlinig auf die Jahnstraße, die Bairawieser Straße knickt hinter der Grünfläche ab. Der Knick solle dafür sorgen, dass weniger Autofahrer diese Strecke wählen und dass langsamer gefahren wird, sagt Sebastian Scheidl, Leiter des Tiefbauamts. Ein verbreiterter Gehweg solle auch den Schulweg erleichtern.
Lastwagen samt Maschine fahren inzwischen nach vorn, machen eine kleine Kurve und nähern sich dem bereits ausgehobenen Loch am neuen Standort knapp zehn Meter weiter. Die Hydraulik hebt die Kastanie von der Ladefläche und senkt sie ab. Die zweigeteilte Schaufel öffnet sich und gibt den Baum frei, der jetzt an seinem neuen Platz steht. Dabei wird ein Relikt sichtbar: Im Wurzelballen eingewachsen ist ein Stück rot-weißes Absperrband, ein Überbleibsel der letzten Straßenerneuerung in den Sechzigerjahren.
"Bei der Verpflanzung werden nur Teile der Wurzeln mitgenommen", sagt Küster. "Später lichten wir die Krone aus, damit das wieder in einem guten Verhältnis steht." Der Baum brauche gute Pflege, um wieder anzuwachsen. Die Wurzeln schneidet ein Opitz-Mitarbeiter nach, damit sie nicht faulen. Um den Baum herum legt er später eine Substratschicht, der Ballen wird mit einem Mykorrhiza-Impfstoff versorgt. Dieser Pilz geht mit dem Baum eine Symbiose ein und versorgt ihn mit Nährstoffen. Düngen und Gießen sind Voraussetzungen dafür, dass die Kastanie wieder gut anwächst. Kastanien überstünden eine Umpflanzung recht gut, sagen die Fachleute.
Michaela Dorfmeister begründet ihren Einsatz für die Erhaltung der Kastanie so: "Ich will einfach der Natur ihren Raum geben. Jeder alte Baum, der wegkommt, ist ein Verlust für die Vogelwelt." Auf den Einwand, für den Klimaschutz sei die Rettung eines einzelnen Baums nur ein Tropfen auf den heißen Stein, entgegnet sie: "Ich kann mich nicht über die Regenwälder querlegen. Wenn jeder seinen Teil vor Ort macht, wird vielleicht manches besser." Dass die Nachbarschaft durch die Initiative zusammengerückt ist, sei ebenfalls ein Erfolg, sagt Gundermann und schlägt vor: "Man könnte die Umpflanzung als Anlass für ein jährliches Fest nehmen."
Als Peter Kreitmeir seinen Sohn fragt, was er bei der Aktion gelernt habe, antwortet Poldi: "Dass man manchmal für etwas kämpfen muss und man auch mal eine andere Meinung hat."