Süddeutsche Zeitung

Bad Tölz-Wolfratshausen:Suchtfaktor Perspektivlosigkeit

Corona, Cannabis und Kokain: Auch in der Pandemie hält sich der Drogenkonsum bei Jugendlichen. Das zeigt der Bericht der Geretsrieder Sozialarbeiter. Sie warnen vor einem Wegfall von Unterstützungsangeboten

Von Stefanie Haas, Bad Tölz-Wolfratshausen

Alkohol, Cannabis, Amphetamine und auch Kokain: Drogen werden nicht nur in Großstädten und einschlägigen Netflix-Serien konsumiert, sondern auch im beschaulichen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Das zeigt der kürzlich veröffentlichte Jahresbericht des Trägervereins für Jugend- und Sozialarbeit (TVJA) Geretsried. Auch die Corona-Pandemie, das wird aus den Statistiken deutlich, hat daran nichts geändert.

Von allen erfassten Rauschgiftdelikten im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Oberbayern-Süd wurden vergangenes Jahr 32,1 Prozent von Jugendlichen begangen. Dieser Wert unterscheidet sich kaum zu 2019, wo der Anteil bei 32 Prozent lag. Das überrascht die zuständigen Sozialarbeiter. "Wir dachten zuerst, die Zahlen werden komplett einbrechen", erklärt Florian Baindl, Sozialpädagoge der Caritas in Geretsried und dort zuständig für die Jugendsuchtberatung. Diese Vermutung lag nahe, da Rauschgiftdelikte zu den sogenannten "Kontrolldelikten" zählen: Ohne aktives Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden tauchen diese auch nicht in den Statistiken auf. Und weil es 2020 pandemiebedingt weniger Gerichtsverfahren gab, hätte Baindl erwartet, dass sich das auch in den Zahlen bemerkbar macht. Etwa 80 bis 90 Prozent der Jugendlichen kämen über das Gericht in die Jugendsuchtberatung, sagt Baindl. Wenn sie beispielsweise mit Marihuana erwischt werden, können über die Jugendgerichtshilfe erzieherische Maßnahmen, sogenannte Diversionsverfahren wie Beratung und Sozialstunden, erfolgen. Trotz Pandemie kämen viele Jugendliche weiterhin zur Beratung: "Die freuen sich, mal von zu Hause raus zu kommen und in der Beratung reden zu können", sagt Baindl.

Konsumiert werden hauptsächlich Alkohol und Cannabis. Je nach Verfügbarkeit seien auch Amphetamine oder MDMA dabei. So steht es auch im Jahresbericht des TVJA. "Das erscheint bei uns aber mehr am Rande als Beikonsum", erklärt Baindl zu den synthetischen Drogen. Denn bei allen, die in die Beratung kommen, werde zunächst der gesamte Konsum abgefragt. "Da kommt dann eben auch raus, dass manche noch etwas anderes nehmen." Aktuell liege der Fokus aber vor allem auf den eher beruhigenden Mitteln, denn durch die Pandemie seien die Orte für klassische Partydrogen weggefallen.

Bei den durchschnittlich 130 Jugendlichen, die pro Jahr in der Beratung kommen, lässt sich eine typische Szene oder ein spezifisches Milieu beim Konsum allerdings nicht ausmachen. Stattdessen, so Baindl, seien die Umweltfaktoren für den Weg zum Konsum essenziell: "Jeder bringt so seine Geschichte mit." Das könnten Probleme in der Schule, unzureichende Förderung oder eine prekäre Familiensituation sein. Besonders in der Angehörigenberatung ergäben sich so immer wieder interessante Situationen: "Wenn die Eltern kommen und man mit ihnen darüber spricht, was ihr Konsum ist und was sie ihren Kindern so vorleben, ist das schon spannend."

Entscheidend ist die Art des Konsums. Johanna Beysel, zuständig für den Kinder- und Jugendschutz im Landkreis, sagt, dass Drogenkonsum bei Jugendlichen immer ein Thema sein werde: "Viele probieren aus Neugierde etwas aus, dafür ist die Jugendphase auch da." Suchtberatung komme erst dann ins Spiel, wenn man mit einem riskanteren Konsum oder Straffälligkeit konfrontiert sei. Es gehe auch um die Auswirkungen auf die psychische Stabilität und Entwicklung bei Heranwachsenden. Hinzu komme, dass die sich teilweise in der Illegalität bewegen: Denn der Konsum von Cannabis könne "zu Straffälligkeit, eventuell auch einem Verfahren führen. Der Führerschein kann manchmal erst später gemacht werden." Deswegen bietet Beysel diverse Präventionsprojekte in Schulen an, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen und das Verantwortungsgefühl der Jugendlichen zu stärken.

Nah an den Jugendlichen, gewissermaßen an der Quelle, ist vor allem das Team der Mobilen Jugendarbeit (MJA), die sogenannten Streetworker. Als Teil des TVJA sind sie auf den Straßen Geretsrieds unterwegs und fungieren als Bindeglied zwischen den Jugendlichen und den Beratungsstellen. Patrick Schmook, seit September Teil der MJA, erklärt, dass viele Jugendliche sich zum Konsumieren vom öffentlichen in den privaten Raum zurückziehen. Das erschwere den Zugang zu ihnen und damit die Möglichkeit, sie auf individuelle Beratungsangebote hinzuweisen. Auch die pandemiebedingte Unsicherheit sieht er als ein großes Problem. "Was ich sehr alarmierend finde, ist wenn jemand nach dem Abschluss beispielsweise keine Ausbildung findet." Manche Jugendliche würden nun abgehängt, weil sie pandemiebedingt keine Beschäftigung finden. Dadurch bestehe für sie die Gefahr, "in Konsumraster zu fallen, die sehr problematisch sein können", erklärt Schmook. Auch Baindl findet das "besorgniserregend", wie er sagt. "Da wird uns noch einiges erwarten", vermutet er. "Mehr Nachfragen zur Beratung hatten wir schon nach dem ersten Lockdown, da kam so eine Welle auf uns zu." Er befürchtet, dass sich das wiederholen könnte. Beysel sieht die Lage ähnlich: "Durch Corona fallen viele Hilfenetze weg", sagt sie: "Vertrauenspersonen oder Erwachsene, die als Ansprechpartner da sein könnten wie Trainer oder Schulpsychologen." Jugendliche, sagen alle drei, brauchten Beschäftigung und Perspektiven. Denn niemand wolle unsicher den ganzen Tag zuhause herumhängen.

Die Jugendsuchtberatung der Caritas bietet Informationen, Einzel- und Gruppenberatung oder auch Vermittlung an Therapieeinrichtungen an. Telefon: 08171/98 30 40. Graslitzer Str. 13, 82538 Geretsried. Die Beratung in Bad Tölz befindet sich am Klosterweg 2 und ist erreichbar unter Telefon 08041/79 31 61 40. Die Mobile Jugendarbeit (MJA) des TVJA in Geretsried gibt es auch auf Instagram: mja_geretsried. Patrick Schmook ist erreichbar unter 0157/37 16 91 47. Johanna Beysel kann man beim Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen unter Telefon 08041/50 56 28 anrufen

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5262048
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.04.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.