Bad Tölz-Wolfratshausen:Trost aus der Flasche

Restaurant "Noun" in Mücnhen, 2016

Prost Pandemie: Wein wird im Lockdwon deutlich mehr verkauft als vorher. Das gleiche gilt für Bier und Spirituosen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Der Alkoholkonsum ist bei vielen im Corona-Lockdown gestiegen. Die Suchtberatungsstellen im Landkreis sind besorgt über die Entwicklung. Und Getränkehandlungen verkaufen bis zu einem Drittel mehr Wein und Bier.

Von Susanne Hauck

Christine war ganz gern mit ein paar Gläschen dabei. Der Prosecco in der Mädelsrunde gehörte ebenso dazu wie das zeitweilige Viertel Rotwein abends vorm Fernseher. Aber seit dem Sommer rührt sie keinen Tropfen mehr an. Was sie im ersten Lockdown alles trank, machte ihr Angst. Es wurden immer mehr leere Flaschen, die sie zum Altglascontainer schleppte. "Ich konnte es kaum glauben, dass ich als Singlefrau das alles allein in einer Woche getrunken haben soll", sagt Christine, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. "Da habe ich von einem Tag auf den anderen komplett mit dem Trinken aufgehört."

Die 57-Jährige ist damit die Ausnahme. Denn bei vielen Menschen hat sich der Alkohol während der Corona-Pandemie immer mehr in den Alltag geschlichen. Im Home-Office lässt sich der morgendliche Kater vorm Chef gut verbergen, beim Waldspaziergang prostet man seiner Begleitung mit einem Piccolo aus dem Rucksack zu, und dass die verkrampfte Skype-Runde unter Freunden mit einem Weinchen gleich viel lockerer wird, hat man auch schon festgestellt.

Einsamkeit, innere Unruhe, Konflikte in der zu Hause aufeinanderhockenden Familie, die Angst, was aus dem Job wird, und vor allem die Perspektivlosigkeit angesichts der immer länger andauernden Pandemie: All das sind Gründe, warum mehr Menschen zur Flasche greifen als sonst. Bei der Caritas-Fachstelle gibt es mittlerweile sogar eine Warteliste. Ein bis zwei Wochen dauert es, bis man einen Termin zur Beratung bekommt. "Der Anstieg beim Alkoholkonsum ist massiv", hat Michael Hanfstaengl beobachtet. Der Leiter der Fachambulanz für Suchtkranke berichtet von 15 Prozent mehr Klienten im Vergleich zu 2019, die sich an die beiden Caritas-Beratungsstellen in Geretsried und Bad Tölz gewandt haben. 1000 mehr Kurzkontakte hat es gegeben.

"Die momentane Situation löst sehr viel Stress aus", erklärt der Sozialpädagoge. "Typischerweise wird da zum Angstlöser gegriffen, und das sind halt Alkohol und Drogen." Zunehmend sei auch die Mittelschicht betroffen. Er hat Fälle von Abhängigen, die lange stabil waren und jetzt rückfällig wurden, aber auch viele neue Klienten, die nun völlig verzweifelt sind und keinen Ausweg mehr sehen.

Zwar können einige Selbsthilfegruppen unter strengen Auflagen wieder stattfinden. Aber: Die Stimmung bei den Teilnehmern sei nicht gut, viele hätten große Angst davor, wieder rückfällig zu werden - und zwei seien es auch schon geworden, sagt Oskar Neumüller. Der Leiter einer Blauen-Kreuz-Gruppe in Geretsried bedauert dabei eines besonders: "Es kommen keine Neuen mehr, weil sie glauben, dass wir geschlossen haben oder dass es uns nicht mehr gibt."

Die Getränkehandlungen berichten unisono von rasant gestiegenen Verkaufszahlen bei Alkohol. "Fast ein Drittel mehr", erklärt Josef Killer, Marktleiter der Fristo-Filiale in Bad Tölz. Vor allem im ersten Lockdown hätten die Kunden das Bier in rauen Mengen weggeschleppt, jetzt habe es sich auf hohem Niveau eingependelt. So leicht lasse sich daraus aber nicht der Rückschluss ziehen, dass insgesamt mehr gezecht werde, sagt er. Schließlich sei die Gastronomie geschlossen. "Jetzt trinken sie halt zu Hause statt im Lokal."

"Man gönnt sich gern ein Fläschchen", ist auch die Erfahrung von Peter Goerke von Jacques' Weindepot in Wolfratshausen. Ebenso wie Killer verkauft er in der Krise deutlich mehr als sonst. Er hat jedoch auch festgestellt, dass seine Kunden immer mehr auf den Preis schauen, je länger die Pandemie dauere. "Man merkt, dass das Geld nicht mehr so locker sitzt."

Evelyn Lukas, die die Filiale vom Weinimport Herbig in Schäftlarn führt, berichtet von vielen Kunden, die als Ersatz für den Lokalbesuch das Kochen zu Hause zelebrieren, wo sie aufwendige französische Menüs und komplizierte Rezepte wie "Coq au Vin" zubereiten. Zu jedem Gang werde dann der passende Wein serviert, ganz wie im Sternerestaurant. Gut für Lukas: Sie verzeichne ein Absatzplus von rund 30 Prozent, sagt sie. Auch allerhand Spirituosen wie Absinth oder Pastis gingen gut, und sogar ihr teuerster Calvados für 60 Euro die Flasche. "So was wurde früher nur ganz selten gekauft, weil man es typischerweise im Restaurant trinkt", sagt Lukas. "Die Menschen haben halt mehr Zeit zum Herumprobieren und sind bereit, entsprechend Geld auszugeben."

Täglichen Alkoholkonsum hält Michael Hanfstengl für besorgniserregend. "Wenn ich mein Gläschen jeden Abend brauche, wenn ich ständig daran denke, wann ist es endlich 17 Uhr und ich darf trinken, wenn selbst gesteckte Grenzen fallen und ich Ausreden finde, schon um 14 Uhr anzufangen, das ist bedenklich", sagt der Caritas-Suchtberater. Zur Selbsthilfe rät er, sich den Alltag gut zu strukturieren, nicht bis acht Uhr abends im Home-Office zu sitzen, für Bewegung an der frischen Luft zu sorgen und die sozialen Kontakte nicht einschlafen zu lassen. "Und pfeifen Sie sich bloß nicht die Corona-Sendungen im Fernsehen rein, sonst verfliegt jede Hoffnung."

Die Caritas-Beratungsstellen für Suchtkranke sind unter der Telefonnummer 08171/98 30 40 (Geretsried) und 08041/79 31 61 40 (Bad Tölz) zu erreichen. Die Caritas bietet Beratung telefonisch, online und persönlich an. Ansprechpartner für die Selbsthilfegruppe "Blaues Kreuz" in Geretsried sind Oskar Neumüller (0177/43 16 05 0) und Wolfgang Kozlowski (0172/66 84 93 8)

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