Süddeutsche Zeitung

Platz- und Personalmangel:"Die Problemlage spitzt sich richtig zu"

Weil freie Plätze im Frauenhaus fast das ganze Jahr über fehlen, muss der Verein "Frauen helfen Frauen" in Wolfratshausen immer mehr Schutzsuchende abweisen. Dies ist in Deutschland kein Einzelfall. Über ein strukturelles Problem beim Gewaltschutz.

Von Yannik Achternbosch, Wolfratshausen

Seit mehr als 30 Jahren schon betreibt der Verein "Frauen helfen Frauen e.V." das Frauenhaus in Wolfratshausen. Dort sollen Frauen und ihre Kinder in Notsituationen einen Ort finden, an dem sie vor ihren gewalttätigen Partnern sicher sind und sich ein eigenständiges, gewaltfreies Leben aufbauen können. Dafür braucht es professionelle Betreuung. Und vor allem: freie Plätze. Aber genau daran fehlt es in erschreckendem Ausmaß. "Die Problemlage spitzt sich richtig zu", sagt Nicoline Pfeiffer von "Frauen helfen Frauen" in Wolfratshausen.

Der Bedarf an Plätzen im Frauenhaus steigt, die Zahl der verfügbaren Plätze bleibt allerdings gleich. "2021 haben wir 26 Frauen wegen Platzmangels abweisen müssen. 2022 hatten wir 48 Frauen, die wir abweisen mussten. Allein in diesem Jahr hatten wir schon 16 solche Fällen. Einfach weil wir voll waren und keinen Platz hatten", sagt Pfeiffer. Das ist kein Mangel, der nur auf Wolfratshausen zutrifft. In ganz Deutschland sind die Frauenhäuser voll. Anders ausgedrückt: Dieses Fundament, um Frauen zu versorgen, die unter Gewalt leiden, ist zumindest wacklig.

Abweisen bedeutet, dass die Frauen erst einmal in ihre Familien zurückkehren müssen. Zurück zu den gewalttätigen Männern. Sechs Zimmer bietet das Frauenhaus in Wolfratshausen, hinzu kommen drei Wohnungen, die dem Verein vom Landkreis zur Verfügung gestellt werden. Die Wohnungen werden vor allem für Frauen mit Kindern verwendet, bei denen absehbar ist, dass sie sich aufgrund der Probleme länger in den Schutzräumen aufhalten müssen und "eine längere Begleitung brauchen", wie Pfeiffer sagt.

An vier von fünf Tagen ist das Frauenhaus in Wolfratshausen voll

Von der Idee her sollte es im Frauenhaus theoretisch immer mindestens einen freien Platz geben, um Notfälle kurzfristig aufnehmen zu können. In der Praxis sieht das allerdings ganz anders aus - davon kann Pfeiffer viel erzählen. Daten des Recherchekollektivs CORRECTIV.Lokal bestätigen diesen Notstand. Das Kollektiv hat 2022 automatisiert jeden Tag die Verfügbarkeit von Plätzen in Frauenhäusern in Deutschland erhoben, Grundlage der Daten ist die bundesweite Frauenhaus-Suche der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser.

Für das Frauenhaus in Wolfratshausen sind die erhobenen Daten ähnlich ernüchternd wie für den Rest Deutschlands: An vier von fünf Tagen war in der Flößerstadt kein Zimmer für eine Frau in Not verfügbar. Die Daten von Correctiv zeigen eine Auslastung des Frauenhauses von 80,55 Prozent oder, anschaulicher, 294 von 365 Tage ohne freien Platz.

Im vergangenen Jahr hatte das Frauenhaus in Wolfratshausen in drei kompletten Monaten - Februar, Mai und Oktober - kein freies Zimmer, im Juni und November war lediglich an zwei von 30 Tagen ein Zimmer frei.

Die Frauen im Wolfratshauser Frauenhaus kommen allerdings nicht alle aus dem Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. In vielen Fällen ist die Unterbringung an einem anderen Ort mit größerer Entfernung zum Täter sinnvoll. "Wenn von vornherein absehbar ist, dass der Mann sich sowieso an keine Regeln hält und schwer gewalttätig ist, dann macht es oft keinen Sinn, die Frau hier vor Ort aufzunehmen", berichtet Pfeiffer.

Sie und ihre Kolleginnen versuchen dann, die betroffene Frau in ein Frauenhaus in einer anderen Stadt zu vermitteln. Allerdings ist die Situation dort genauso problematisch wie in Wolfratshausen. Die Daten zeigen, dass 2022 bei den betrachteten Schutzeinrichtungen in Deutschland an durchschnittlich 303 Tagen kein Platz verfügbar war, das entspricht 83 Prozent des Jahres. Dies bedeutet, dass schutzsuchende Frauen nicht einmal an einem von fünf Tagen einen sicheren Schlafplatz in einem Frauenhaus in Deutschland bekommen konnten.

Regional gibt es dabei allerdings auch innerhalb Bayerns große Unterschiede. Von den 19 Frauenhäusern im Freistaat, deren Belegung Correctiv ausgewertet hat, konnten sieben im gesamten Jahr 2022 an keinem Tag einen freien Platz anbieten. Für die betroffenen Frauen, die einen sicheren Ort suchen, ist das ein großes Problem.

Über die reine Verfügbarkeit hinaus gibt es allerdings ein weitere Schwierigkeit, die von den Daten nicht erfasst wird: Teilweise sind Zimmer in Frauenhäusern frei, die für die Schutzsuchenden jedoch nicht geeignet sind. Oftmals suchen Frauen zusammen mit ihren Kindern Hilfe, das verfügbare Zimmer ist dann teilweise zu klein. Noch viel schwerer, berichtet Pfeiffer, sei die Suche nach Zimmern für Frauen mit Behinderung. Viele Frauenhäuser haben überhaupt kein barrierefreies oder zumindest barrierearmes Zimmer. Das Frauenhaus in Wolfratshausen bietet einen Platz für eine Frau mit Behinderung, aber bei dem sowieso sehr knappen Angebot ist dieser eine Platz nur ganz selten frei.

Außerdem ist der Betreuungsaufwand für Frauen mit Behinderung ungleich höher, in der Finanzierung der Frauenhäuser sind dafür jedoch keinerlei zusätzliche Mittel vorgesehen. "Unsere Hauswirtschafterin Mariana Schlosser übernimmt da sehr viel von der Arbeit", erzählt Pfeiffer. "Das ist sehr gut, aber das führt auch dazu, dass sie inzwischen Überstunden ohne Ende hat." Neben der Unterbringung und der üblichen therapeutischen und sozialen Hilfe benötigten einige Frauen mit Handicap beispielsweise einen Pflegedienst, der sie wäscht. Auch dieser übernimmt allerdings nicht alle Aufgaben, es sind wiederum die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses, die sich etwa um die Begleitung beim Einkaufen und Hilfe beim Putzen des Zimmers kümmern müssen. Diese Zusatzaufgaben "sind mit dem Personalschlüssel, der vorgesehen ist, einfach nicht machbar", sagt Pfeiffer. Trotzdem bemühen sie sich in Wolfratshausen, das so gut wie möglich zu erledigen, auf Kosten von Überstunden und freiwilliger Zusatzarbeit.

Hauptsächlich Männer sind Gewalttäter

Das Problem bei häuslicher Gewalt, da übertreibt Pfeiffer in ihren Ausführungen nicht, sind vor allem die Männer. Eine Auswertung des Bundeskriminalamts von 2021 zeigt, dass vor allem Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind: 80,3 Prozent der Opfer waren weiblich, 78,8 Prozent der Tatverdächtigen männlich. Das sind offizielle Zahlen, eine große Anzahl von Gewalttaten bleibt hingegen im Dunkeln. Viele Frauen zeigen ihren gewalttätigen Partner nie an, tauchen in dieser Statistik deshalb nicht auf. Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine bemerken Pfeiffer und ihre Kolleginnen im Wolfratshauser Frauenhaus noch nicht. Die geflohenen Frauen und ihre Kinder "sind ja fast alle ohne Männer gekommen", sagt sie. Männer dürfen das Land nur in Ausnahmefällen verlassen, damit bleibt für betroffene Frauen auch die Gewalt zurück.

Fragt man Nicoline Pfeiffer, welche Unterstützung das Frauenhaus noch bräuchte, kann sie ohne Zögern zahlreiche Forderungen auflisten. "Es bräuchte endlich eine Finanzierung, die wirklich allen Frauen Zugang gewährt", sagt sie. Das fällt ihr zuerst ein und meint damit die Aufnahme von Frauen mit Behinderung. Allerdings sieht sie auch juristisch großen Bedarf für Verbesserungen. Viele der Frauen, die den Schutz des Frauenhauses suchen, haben eine Migrationsgeschichte und führen oftmals eine Beziehung mit deutschen Männern - Pfeiffer spricht von binationalen Beziehungen. Gerade bei Frauen mit unsicherem Aufenthaltstitel haben die Männer ein massives Druckmittel.

Frauen werden in von Missbrauch geprägten Beziehungen oft gezielt von der Gesellschaft isoliert

Pfeiffer sieht ein weiteres Problem darin, dass die deutsche Gesellschaft häufig "Migranten-Blaming" betreibt, wie sie es nennt. Dass das Problem von Gewalt gegen Frauen nur bei ausländischen Familien gesehen wird, dass es "ein Migrationsproblem ist". Meist sprechen die Frauen wenig Deutsch, "da kommt es vor, dass die Frauen in einem halben Jahr im Frauenhaus mehr Deutsch lernen als in zehn Jahren Ehe", erzählt Pfeiffer. Außerdem haben Migrantinnen im Kontakt mit Behörden oft schlechte Erfahrungen gemacht und wollen nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden. Ihnen fehlt der Kontakt zur Gesellschaft in Deutschland, sie kennen ihre Rechte nicht oder zu wenig - "nicht, weil es sie nicht interessiert, sondern weil sie einfach gezielt davon abgeschottet werden", sagt Pfeiffer. Auch dieser Aspekt sorgt für eine kaum abschätzbare Dunkelziffer von Gewalttaten.

Trotz der hohen Belastung versuchen Pfeiffer und ihre Kolleginnen, möglichst vielen Frauen möglichst gut zu helfen, mit Beratung in Sprechstunden und im Notfall auch mit einem Platz im Frauenhaus. "Wir sind sehr an der Grenze, und das funktioniert nur, weil hier ein sehr engagiertes Team arbeitet." Sie sagt das nicht ohne Stolz. Allerdings sind die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit frustrierend, auch das wird im Gespräch klar. "Ich habe oft das Gefühl, dass die Gesellschaft sich ein Stück weit auch damit abfindet, dass es Gewalt gegen Frauen gibt." Seit fast 30 Jahren ist Pfeiffer bei "Frauen helfen Frauen" jetzt aktiv, die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Zeit sieht sie nicht sonderlich positiv. "Das Ziel war es immer, Frauenhäuser überflüssig zu machen. Und davon sind wir weit entfernt." Um dieses Ziel doch noch zu erreichen, brauche es mehr gesellschaftliche und politische Unterstützung. "Dass man einfach sagt, wir sind nicht bereit, diese Gewalt zu dulden - das fehlt."

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