Kriegsende vor 75 Jahren:Ein Schneesturm verhindert das Schlimmste

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In der Nacht auf den 2. Mai 1945 befreien die US-Streitkräfte Bad Tölz. Am Vorabend beschädigt die Sprengung der Isarbrücke viele Häuser, darunter die Weinstube der Familie Janßen

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Es war am Abend des 1. Mai 1945, als Karl Janßen von der Weinstube Schwaighofer zur Isarbrücke hinab sah, wo die US-Streitkräfte auf der Westseite mit Panzern erschienen. Erst war nur leichtes Maschinengewehrfeuer zu hören, mit Einbruch der Dunkelheit krachte es jedoch richtig. Granaten schlugen in der Tölzer Marktstraße ein. Karl Janßen flüchtete. Gerade noch rechtzeitig. Später erzählte er seinem Sohn Claus, dass er in seinem Leben "nie so schnell vom Balkon in den Keller gerannt" sei. Dort verbrachte er wie viele andere Tölzer die Nacht. In der Morgendämmerung wurde die Stadt den amerikanischen Streitkräften übergeben. Der Zweite Weltkrieg war für Bad Tölz zu Ende.

Der 1. Mai war ein Tag voller Angst und angespannter Erwartung. Die Stimmung in der Kurstadt sei "äußerst gedrückt und sorgenvoll" gewesen, schrieb der spätere Landrat Anton Wiedemann in seinen Erinnerungen an das Kriegsende. Am Tag zuvor hatte der Spenglermeister Josef Stegmaier die weiße Fahne am Turm der Stadtpfarrkirche gehisst, war dabei von der SS beschossen, aber nicht getroffen worden. Ein Trupp der Hitlerjugend verschaffte sich Zugang zum Gotteshaus und zog die Hakenkreuzfahne auf. Die Nazi-Flagge wurde jedoch vom Kirchenverwalter Jakob Pensberger und von Hans Schretzenstaller wieder hinabgeworfen, wie Wiedemann erzählt.

"Erwähnt sei auch noch der Schneid des städtischen Arbeiters Martin Jäger, der einem Offizier, der auf den auf dem Turm stehenden Stegmaier geschossen hat, die Waffe aus der Hand schlug, und dabei selbst verletzt wurde."

Wenige Stunden später, etwa gegen 19.30 Uhr, erschütterte plötzlich eine Explosion die Kurstadt: Die Isarbrücke war gesprengt worden. Wiedemann erzählt von "Tausenden von Fenstern", die durch Explosion und Druckwelle zertrümmert, von vielen Häusern, die beschädigt worden seien. Unmittelbar danach fuhr eine Wagenkolonne die Marktstraße hinab, Soldaten bezogen Stellung am Brückenkopf. Inmitten des Rückzugs der Wehrmacht hatten sich in Bad Tölz, wo es seit 1936 eine SS-Junkerschule gab, schon am 29. April einige Truppenkontingente der Tölzer SS sowie der berüchtigten SS-Division "Götz von Berlichingen" verschanzt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Isar rückten die US-Panzer an. Gegen Mitternacht setzten die amerikanischen Soldaten mit Schlauchbooten über den Fluss. Und die SS zog sich nach Gaißach zurück.

Claus Janßen, Inhaber der Weinstube Max Schwaighofer in der Tölzer Marktstraße. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Ein glimpfliches Kriegsende für Bad Tölz. Denn es hätte schlimmer kommen können. Weil sie an der Brücke auf Widerstand trafen, sollen die Truppen vom 141. Infanterieregiment der 7. US-Armee bereits Bombenflugzeuge angefordert haben. Wegen des Schneesturms, der in der Nacht zum 2. Mai plötzlich und heftig losbrach, blieb die Stadt vermutlich von völliger Verwüstung verschont. Und was die Sprengung der Isarbrücke anbelangt, so war sie nicht ganz so wuchtig gewesen, wie sie hätte sein können. "Es soll Tölzer gegeben haben, die Sand in das Sprengloch gaben", erzählt Claus Janßen. Jedenfalls war die Ladung nicht sonderlich gut vorbereitet. Sie riss ein Loch in die Fahrbahn und beschädigte einen Pfeiler. Mehr nicht.

In der Weinstube Schwaighofer war gleichwohl viel kaputt gegangen. "Das war der größte Schaden an einem Privathaus", sagt Inhaber Claus Janßen, Vorsitzender des Historischen Vereins für das Bayerische Oberland in Bad Tölz. "Für uns war es Pech, für Tölz kann man von Glück sagen, dass nicht mehr passiert ist." Im zweiten Stock wurde eine Wand auf die Seite gedrückt, der Plafond fiel herunter. Ein Pfeiler rechts vom Eingang war durch den Beschuss stark beschädigt, weshalb für das ganze Haus Einsturzgefahr bestand. "Angeblich sollen sich zwei SS-Leute im Hauseingang versteckt haben", sagt Janßen. Aber sicher sei dies nicht. Und eine Panzergranate hatte die große, zur Marktstraße gelegene Weinstube getroffen, die samt Inventar völlig zerstört wurde. Da mutet es fast wie ein Wunder an, dass die vom Münchner Architekten Gabriel von Seidl gestaltete, hinten gelegene Stube mit Stuckdecke das Kriegsende fast unbeschädigt überstand.

Damals führte die Großmutter von Claus Janßen die Enzian-Brennerei und die Weinhandlung, die Weinstube hatte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes verpachtet. Für Maria Janßen begann eine schwierige Zeit des Wiederaufbaus. Um jeden Kubikmeter Holz für Stühle und Tische musste sie kämpfen, wie aus den Rechnungen und Dokumenten herauszulesen ist, die ihr Enkel sorgsam aufbewahrt hat. "Es hat Begehrlichkeiten bei den Lieferanten geweckt, dass wir eine Weinhandlung sind", erzählt Claus Janßen. So zeigte sich ein Schreiner aus München ganz erbost, weil er erwartet hatte, zwei Flaschen Wein, vor allem aber Essig für seine Arbeit geschenkt zu bekommen. "Der Essig war fast wichtiger."

Ein Problem für Maria Janßen war auch die Tatsache, dass Bad Tölz nicht als sogenanntes Notstandsgebiet galt. Die Kriegsschäden hielten sich - verglichen mit vielen anderen Städten - noch in Grenzen. "Umso schwieriger war es, etwas zu bekommen", sagt Claus Janßen. Fenster, Türen, Wände, Weingläser, anderes Inventar - es dauerte lange, bis all dies beschafft war. Die große Weinstube, die dann bis 1960 an Martha Büchte verpachtet war, konnte erst im August 1948 wieder eröffnet werden. Der nach den Plänen von Architekt Josef Hillerbrand gestaltete Raum ist heute ebenfalls eine Rarität.

Die Nacht vom 1. auf 2. Mai 1945 rückt für Claus Janßen dann immer nahe, wenn er Sanierungsarbeiten an seinem Haus vornehmen lässt. "Wir merken heute noch, dass die Fassade verrüttelt wurde", sagt er. Vor einigen Jahren habe man sie an die hinteren Wände angehängt, damit sie nicht herausfalle. Und mit Rissen, fügt er hinzu, "haben wir bis heute zu tun".

Als der Krieg zu Ende ging, spielte sein Vater, der als Soldat durch einen Schuss am Kopf verwundet worden war und nicht arbeiten durfte, häufig Klavier. Seine Lehrerin war Christiane Raab, die ihm eine Widmung ins Tagebuch schrieb: "Meinem lieben guten Karl Janßen zur Erinnerung an den Tag der Befreiung von dem grässlichen Nazi-Joch und mit allen innigen Wünschen für die Zukunft". Der Gruß ist datiert vom "1./2. Mai 45", verziert mit einem kleinen weiß-blauen Fähnchen aus Stoff.

© SZ vom 30.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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