Subkultur in Bad Tölz:Verlorene Orte

Lost Places

Auf dem Moraltgelände in Bad Tölz waren Flo S. und seine Freundin schon öfter unterwegs. Es gehe darum, die Entwicklung dieser vom Menschen verlassenen Orte geschichtlich zu dokumentieren, sagt der Hobbyfotograf.

(Foto: privat/oh)

In Industriebrachen wie der Tölzer Moraltfabrik suchen sogenannte "Urbexer" nach spannenden Fotomotiven.

Von Sandra Freudenberg

In Bad Tölz ist das eigentlich ein Dauerthema: das leer stehende Kurhotel, das verlassene Schwimmbad, die einst stolze Fabrik, die von Unkraut überwucherte Gärtnerei. Schon im Kommunalwahlkampf haben alle Parteien versprochen, sich um diese Probleme zu kümmern. Holde Landschaften, Hotelvisionen, Hochkultur - hosianna! Doch in der Zwischenzeit lebt die Subkultur der Stadt - heimlich, still und leise - genau dort auf, wo lange nichts passiert ist: in von Menschen aufgegebenen Gebäuden.

Flo S. trägt auf seinen Touren eine Tarnhose, einen schwarzen Kapuzenpulli und einen kleinen Rucksack bei sich, darin seine Kameraausrüstung. Außerdem hat der 38-Jährige eine Maske und eine Taschenlampe dabei. Seinen vollen Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn was er und seine Freundin oft auch zusammen machen, ist nicht immer ganz legal. Die beiden erkunden gerne tote Orte, sogenannte "Lost Places" wie die Tölzer Moraltfabrik. Flo S. kenne sich hier gut aus, sagt er und erzählt von einer offenen Pforte.

"Das erste Mal sind wir noch über die Feuertreppe und das Dach in den ersten Stock rauf und dann rein", erinnert er sich. Flo bezeichnet sich selbst als "Urbexer" - das steht für Urban Exploration, die Erkundung stillgelegter Gebäude. Meist handelt es sich um Industriehallen, die der Urbexer fotografiert. In der Kurstadt gibt es da einiges an Potenzial. "Wir halten uns an Regeln: Wir brechen natürlich nirgendwo ein und wir beschädigen nichts", sagt Flo S. "Uns geht es um die geschichtliche Dokumentation durch Fotografie." Der sportlich wirkende Mann mit den klaren Augen hat auch telefonisch versucht, sich mit den Eigentümern zu unterhalten. "Aber die reden nicht mehr als zehn Sekunden mit mir."

Flo S. fotografiert lieber Gebäude als Menschen, "die lügen mich nicht an". Man merkt ihm an, dass er sich alles, was er hat, erarbeiten hat müssen, dass er nicht auf der Kurpromenade gespielt hat, sondern eher im Hinterhof. Er und seine Freundin leben beide in Bad Tölz. Um Menschen wie sie geht es wohl, wenn die Politiker im Rathaus von "bezahlbarem Wohnraum für Menschen mit niedrigem Einkommen" sprechen.

Flo S. ist Smartphone-Techniker, seine Freundin ist Frisörin. In der Moraltfabrik waren sie schon öfter gemeinsam unterwegs. Dort muss man mittlerweile nicht mehr über die Feuerleiter einsteigen, erzählen sie. Gemütlich gehe es über das Treppenhaus bis unter den Dachgiebel. Die Dimensionen im Inneren seien gigantisch, erzählt das junge Paar. Und laut träumen die beiden vor sich hin, wie es wohl wäre, wenn sie sich hier eine Wohnung einrichten könnten. Durch schier unendlich lange Lagerhallen komme man ins Nebengebäude. Die beiden berichten von einem alten Wamsler-Ofen, der verlassen dastehe, einer Schürze in der Essensdurchreiche, Pfandmarken im Wert von 30 Pfennig, verstreut auf dem Boden. Man könne das frühere Leben dort quasi fühlen - doch in Wahrheit hole sich hier längst die Natur zurück, was ihr einst genommen wurde. Zweige von Sträuchern drängten durch die offenen Fenster, Tiere hätten sich Unterschlupf gesucht - und Menschen, die sonst nirgends ein Zuhause haben. Die Spuren, die sie am Boden hinterlassen haben: ein Plastiknapf, ein Karton, eine Decke. Und das in einem fantastischen Raum mit wertvollem Parkettboden, aufwendig vertäfelten Wänden und einem Spiegel an der Decke. Das rege zu Gedankenspielen an: Das muss das Büro vom Boss gewesen sein. Lange ist es her. Heute wohnten hier die Mäuse.

Wie das Moraltgelände künftig genutzt werden soll, dazu gibt es viele Ideen. Bürgermeister Ingo Mehner (CSU) kann sich eine lebendige Mischung vorstellen aus jungen Unternehmen und modernem Wohnen. Flo S. hofft, dass bei diesen Gedankenspielen auch Leute wir er nicht ganz vergessen werden.

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