Der Mann auf dem behaglichen grünen Sessel wirkt, als wäre er nicht daheim in seinem Leben. Ein Arm ist merkwürdig abgewinkelt, die Augen sind leer, aus der Nase wächst ein spitzer Dorn. Sein Blick heftet sich auf eine Lampe mit sperrigem Schirm, der Sessel steht nicht fest, sondern auf Rollen. In den blau-rosa Bildhintergrund sind wilde Linien geritzt, die Perspektive ist nicht eindeutig. "Das Lumen im Augenblick" hat Lilli Mayer das Bild betitelt, das eigentlich ganz anders werden sollte. Denn ursprünglich wollte sie eine Figur malen, die das Licht ausschaltet. Die Schluss macht. Das Bild habe sich dann anders entwickelt, sagt Mayer, denn auch im Leben seien die Verhältnisse mal hell und mal dunkel. "Aber man hat die Entscheidung."
"Ich habe viel zu verarbeiten", sagt Lilli Mayer.
(Foto: Harry Wolfsbauer)Mayer weiß, wovon sie spricht. In ihrem Leben hat es viele dunkle Zeiten gegeben, die sie in ihren Bilden verarbeitet. Es sind faszinierende Bilder - kraftvoll, verstörend, vieldeutig -, die nun in einer Ausstellung in der Kunstwerkstelle zu sehen sind. Eine Woche vor der Vernissage sind erst fünf der 16 Bilder im Atelier, aber bereits an den wenigen Arbeiten lässt sich erkennen: Diese Ausstellung ist unbedingt sehenswert. Mayer ist Autodidaktin und eine rastlos Schaffende.
Fast täglich geht die 44-Jährige vom Haus Florida, einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, wo sie seit einigen Jahren lebt, in die nahe gelegene Kunstwerkstelle. Vor gut eineinhalb Jahren hat die Kunstpädagogin Annette Schreiner dort einen anregenden Kreativ-Ort in einer ehemaligen Tankstelle eröffnet, damit sich Menschen, gleich welchen Alters, künstlerisch entfalten und ausprobieren können. Für Mayer ist die Kunstwerkstelle zu einem Fixpunkt geworden, an dem sie sich ihren inneren Bildern stellt. Ihre Kunst ist radikal subjektiv.
Mayers künstlerisches Talent zeigte sich erst spät. Auslöser war eine psychische Krise, in die die gelernte Erzieherin mit Anfang dreißig geriet. Die Rosenheimerin verbrachte Wochen im Reha-Zentrum von ReAl in Bad Tölz und begann im Rahmen der Ergotherapie zu malen. "Zum ersten Mal habe ich andere Farben als Wasserfarben kennengelernt", sagt Mayer. Sie entdeckte die Acrylfarbe für sich, ihre Lieblingsfarbe ist Gold, "weil es so schön schimmert". Das handwerkliche Können, die Technik, hat sie sich selbst beigebracht und einen ganz eigenen Stil entwickelt.
Ein Farbkonzept habe sie im Kopf, sagt Mayer, dann grundiert, malt, spachtelt sie, ritzt Linien ein und arbeitet Figuren heraus, die in dem Farbenmeer aufscheinen. Sie liebt große Formate, in denen sich ihre Seelenwelten entfalten können: Gesichter, Gliedmaßen, Augen, kubistische Formen, expressive Farben. Picasso und Campendonk - das seien ihre Vorbilder, sagt sie. Manchmal übermalt sie Bilder, wenn sie ihr nicht mehr gefallen, oder holt sie nach Monaten noch einmal hervor und überarbeitet sie. Wie das starke Portrait eines Mannes, das keinen Titel hat: Der Blick melancholisch, expressives Violett, grüne, wilde Haare. Ein Gesicht, das eine Geschichte erzählt.
Mayers Arbeitsweise sei intuitiv und außergewöhnlich, sagt Schreiner, die die Ausstellung kuratiert und selbst Künstlerin ist. "Ich habe das so noch nicht gesehen." In den vergangen Jahren hat Mayer an einigen Ausstellung mitgewirkt: Einzelausstellungen im Tölzer Kunstverein und im Landratsamt 2017, 2020 und 2022 war sie Preisträgerin des oberbayerischen Kunstförderpreises "SeelenART in München, der alle zwei Jahre verliehen wird.
Man muss genau hinschauen - auch beim Titel. Dieses Bild heißt "Scham".
(Foto: Harry Wolfsbauer)Ihre Bilder würde man der "Art Brut" zuordnen, wenn man denn müsste. "Rohe Kunst", geschaffen von Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen Behinderungen oder von gesellschaftlichen Außenseitern. Autodidakten, die jenseits etablierter Strömungen ihre Bilder aus dem eigenen Innenleben heraus schaffen. "Ich habe viel zu verarbeiten", sagt Mayer. Ihre Produktion ist eruptiv; in den vergangenen vier Wochen hat sie fünf Arbeiten fertiggestellt. Bilder von großer Wucht und in starken Farben, denen man sich kaum entziehen kann. Und die durch ihre figurativen Elemente und Symbole verstörend und rätselhaft sind. Man muss sich Zeit nehmen und genau hinschauen. Die Bilder verweigern sich einer einfachen Interpretation. Sie sind vieldeutig, aber nicht beliebig. Denn Mayer gibt ihnen Titel, die den Weg weisen. Der Clown zum Beispiel, der mit seinem grell geschminkten Gesicht und der froschähnlichen Statur grotesk, ja fast bedrohlich wirkt. Aber sein Blick ist unsicher, und auch der Blick des Betrachters wird durch den Titel verunsichert: "Scham" hat Mayer das Bild überschrieben. Und so stellt man auf den zweiten Blick fest, dass der Clown nur halb bekleidet ist, die Pose artifiziell wirkt. "Er zeigt nicht sein wahres Gesicht", erklärt Mayer. "Er würde es gerne, aber er schämt sich."
Vernissage am Donnertag, 21. September, 19 bis 22 Uhr, Kunstwerkstelle, Ludwigstraße 31, Bad Tölz. Ausstellung bis 22. Oktober, geöffnet Donnerstag, Freitag und Feiertage 14 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag 12 bis 18 Uhr.