Bildung und Erziehung„Wir können Konflikten den nötigen Raum geben“

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Bunte Mischung im Tölzer Jugendcafé: Seit Monaten arbeiten neun Kinder und Jugendliche mit Clara Baumgartner an dem Projekt „We Real – unsere Welt in echt“.
Bunte Mischung im Tölzer Jugendcafé: Seit Monaten arbeiten neun Kinder und Jugendliche mit Clara Baumgartner an dem Projekt „We Real – unsere Welt in echt“. (Foto: Manfred Neubauer)

Anfangs fanden sie sich gegenseitig nur seltsam. Nun zeigen neun junge Menschen, was sie gemeinsam bei einem inklusiven und interkulturellen Theaterprojekt der Tölzer Jugendförderung erarbeitet haben. Ein Gespräch mit Clara Baumgartner über die Kunst, Erlebtes sichtbar und begreifbar zu machen.

Interview von Stephanie Schwaderer, Bad Tölz

Sie heißen Colin, Dalya, Eron, Gioia, Isabel, Jana, Lillie, Pasquale und Raphael. Ihre Biografien sind so verschieden wie ihre Ängste und Hoffnungen. Was sie eint, ist ein inklusives und interkulturelles Theaterprojekt der Tölzer Jugendförderung, das sie mit der Theaterpädagogin Clara Baumgartner in den vergangenen Monaten erarbeitet haben. Am Donnerstag, 22. Mai, stellen sie es im Garten des Jugendcafés an der Hindenburgstraße vor. Der Titel des Programms heißt „We Real – unsere Welt in echt“. Es handelt von Begegnungen.

SZ: Frau Baumgartner, wie macht man Theater mit so unterschiedlichen jungen Menschen? 

Clara Baumgartner: Wir sind tatsächlich eine bunte Mischung. Zu uns gehört ein Mädchen mit Trisomie 21, aber auch Kinder mit Migrationshintergrund oder Lernentwicklungsstörungen. Jede Person hat unterschiedliche Gaben und Herausforderungen, etwa sprachliche oder soziale. Aber was wir alle haben, ist unser Körper. Wir können uns bewegen. Deshalb haben wir mit ganz einfachen Übungen begonnen: Durch den Raum gehen, und wenn eine Person stehenbleibt, bleiben alle stehen. Das schult die Aufmerksamkeit. Oder man trainiert die Körperbeherrschung, wenn man in den Freeze geht, also in der Bewegung einfriert. Da gibt es viele Spiele, die Spaß machen und zugleich Fähigkeiten fördern, die mit dem Theater zu tun haben.

Clara Baumgartner ist ausgebildete Gymnasiallehrerin und Theaterpädagogin.
Clara Baumgartner ist ausgebildete Gymnasiallehrerin und Theaterpädagogin. (Foto: Manfred Neubauer)

Im Mittelpunkt dieses Projekts steht das Thema Begegnungen. Wie haben Sie die ins Spiel gebracht?

Auf verschiedene Arten. Alle durften Vorschläge machen, wem sie begegnen wollten oder welche Orte sie gerne kennenlernen würden, daraus wurden dann Exkursionen. Ich habe sie auch ermuntert, Begegnungen zu spielen, ganz frei. Wer kommt auf mich zu? Wie reagiere ich darauf? Das Ergebnis war einerseits sehr vielfältig, weil es die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe spiegelte. Ein auffallend großer Faktor war andererseits die Gewalt.

Wer begegnete sich da?

Es ging um Gewalt auf dem Schulhof, aber auch um die Freude am Kämpfen und Provozieren. Mit einigen habe ich dann kleine Videos gedreht. Sie treten vor die Kamera und begegnen einem unsichtbaren Gegenüber. In vielen Szenen ging es um: Ich werde getötet. Ich schlage. Ich werde geschlagen. Wir haben uns den Zusammenschnitt gemeinsam in der Gruppe angeschaut, und es ist ihnen selbst aufgefallen, wie präsent Gewalt in ihrem Leben ist, sei es in Horrorfilmen, in Computer-Spielen oder eben auf dem Schulhof.

Und das lassen Sie dann so stehen?

Da kommt die Pädagogik ins Spiel. Erst einmal darf alles sein und gesagt werden. Auch wenn es problematisch ist. Wir sind ins Gespräch gegangen und haben versucht zu formulieren, wie sich das anfühlt, Gewalt zu sehen und zu erleben. Jana, das Mädchen mit Trisomie 21, hat gesagt: Das betrübt mich total, das verstört mich, das ist ganz schlimm. Dem musste ich dann nicht mehr viel hinzufügen. Die Gruppe ist so divers, dass sie sich gegenseitig spiegelt.

Und wenn Jana das sagt, hat es Gewicht und wird akzeptiert?

Ja, da findet eine Auseinandersetzung statt. Einige Jugendliche haben große Schwierigkeiten, sich auszudrücken. Es fällt ihnen leichter, jemanden zu treten, als zu sagen, hey, das hat mich gerade gestört. Das ist es, was sie hier lernen dürfen. Wir können Konflikten den Raum geben, den sie brauchen, um verarbeitet zu werden. In der Gruppe sind anfangs teilweise verfeindete Personen aufeinandergetroffen. Aber jetzt spielen sie miteinander Verstecken im Wald.

In den Rollenspielen geht es um Ausgrenzung und Gewalt, aber auch um Zusammenhalt und Gemeinschaft.
In den Rollenspielen geht es um Ausgrenzung und Gewalt, aber auch um Zusammenhalt und Gemeinschaft. (Foto: Manfred Neubauer)
Clara Baumgartner hat neben der Pädagogik die Dramaturgie und das Skript im Blick.
Clara Baumgartner hat neben der Pädagogik die Dramaturgie und das Skript im Blick. (Foto: Manfred Neubauer)

Wie schaffen Sie das?

Ich habe mir als ehemalige Lehrerin immer einen Raum gewünscht, der offener und bewertungsfreier ist als die Schule. Und diesen Raum können wir in diesem Projekt bieten. Wir arbeiten ergebnisoffen. Ich versuche, die Kinder zu sehen und zu hören. Sie dürfen mit Themen kommen, die sie bewegen. Wir können in einem Zwei-Stunden-Workshop eine Stunde lang über die AfD diskutieren oder über Gewalt und danach überlegen wir, wie wir das in eine Szene übersetzen könnten. Ich hatte das Gefühl, dass ihnen dieser geschützte Rahmen guttut und sie spüren, dass ich auch einfach gerne mit ihnen bin. Wenn etwas nicht gut läuft, sage ich ihnen das, aber in einem passenden Moment und nicht immer vor der ganzen Gruppe.

Sie waren einige Male gemeinsam in der Natur, welche Bedeutung hatten diese Ausflüge?

Wir waren oft draußen, das hatten sie sich gewünscht. Vor allem der Kontakt mit Tieren war wahnsinnig schön. Wir haben einen Ausflug zu Alma Drumbls Islandpferdehof in Schlehdorf und zu den Schafen im Zentrum für Umwelt und Kultur in Benediktbeuern gemacht. Tiere reagieren ja ganz anders als Menschen, sehr direkt, aber auch liebevoll, wenn sie spüren, dass jemand Zuneigung braucht. Das haben die Kinder unheimlich genossen. Dass da ein Schaf zu ihnen gekommen ist und sich hat streicheln lassen, das war wie ein Geschenk. Sie haben gar nicht mehr aufgehört, zu kuscheln.

Und wie entsteht dabei Theater?

Theater ist für mich eine Möglichkeit, Erlebtes sichtbar zu machen und gemeinsam zu reflektieren. In meiner Arbeit als Projektmanagerin beim Naturschutzverband beschäftige ich mich mit transformativer Bildung – also der Frage, wie Bildung echte Veränderung bewirken kann. Ein zentraler Ansatz dabei sind Erfahrungen und persönliche Begegnungen. Mit unserem Theaterprojekt wollte ich erkunden, wie sich dieser Bildungsansatz mit Theater verbinden lässt – ein Testballon sozusagen. Aus den Begegnungen der Kinder und Jugendlichen sind Texte und Szenen entstanden, die wir mit Videosequenzen und weiteren Theaterideen kombiniert haben. Ein Höhepunkt war der Besuch der Schauspielerin Sabine Mennes. Einige kannten sie aus „Fack ju Göhte“. Gemeinsam haben wir Filmszenen daraus nachgespielt, was allen große Freude gemacht hat. Auch diese Szene ist nun Teil unseres Programms.

Das Programm ist also eine Collage?

Genau. In einem Erzählstrang zeigen wir in kleinen Szenen, wie sich die Teilnehmenden in der Gruppe im Laufe der Monate verändert haben. Am Anfang haben sie nicht miteinander gesprochen, fanden sich komisch. Irgendwann haben sie sich mal angeschaut, dann haben sie sich begrüßt und sich etwas Privates gefragt. Und jetzt spielen sie zusammen Verstecken im Wald. Die intensivsten Begegnungen fanden im Theaterprojekt selbst statt. Dort haben sie sich getroffen und ausgetauscht, manchmal sieben Stunden am Stück, wenn draußen die Sonne schien. Es gab immer wieder die Chance, Unterschiede anzuerkennen und zu schätzen. Und geschätzt zu werden.

Welche Bedeutung hat die Vorstellung?

Es ist schön, wenn es einen Rahmen gibt, in dem wertgeschätzt wird, was man erarbeitet hat. Im Grunde ist es eine weitere Begegnung. Das Wirkliche ist schon passiert. Es geht eher darum, sich zu zeigen, als etwas zu beweisen, denn es ging immer um eine Entwicklung, um den Weg.

Das Projekt der Tölzer Jugendförderung läuft in Kooperation mit der Brücke Oberland e.V. und dem Zentrum für Umwelt und Kultur (ZUK) in Benediktbeuern. Es wird durch das Programm „Kultur macht stark“ als Projekt von „Open Air Culture“ der Alevitischen Gemeinde Deutschland gefördert. Die Vorstellung am Donnerstag, 22. Mai, im Jugendcafé an der Hindenburgstraße 32 beginnt um 18 Uhr, der Eintritt ist frei.

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