Süddeutsche Zeitung

Bad Tölz:Höfischer Salon und Dorfschenke

Das Jerusalem Quartet zeigt beim "quartettissimo"-Konzert sein fabelhaft vielfältiges Temperament

Von Paul Schäufele, Bad Tölz

Schön, dass dieses Konzert stattfinden kann. Denn trotz steigender Infektionszahlen hält die Tölzer Reihe "quartettissimo" daran fest, dass ein Konzert mit geviertelter Auslastung besser ist als kein Konzert. Und deshalb spielt an diesem Abend das Jerusalem Quartet im Kurhaus. "Bis zur letzten Minute waren wir aufgeregt, ob das Konzert stattfinden kann", sagt Veranstalter Christoph Kessler. Vielleicht (hoffentlich) wird diese Aufregung schon in wenigen Monaten grundlos sein. Passenderweise stehen zwei Quartette auf dem Programm, die wie wenige andere für den Aufbruch in eine neue Phase des Lebens und Musizierens stehen.

Das mag bei Dmitri Schostakowitschs achtem Quartett zunächst überraschen. Im Ganzen betrachtet, handelt es sich um ein erschreckend düsteres Werk. Mit fahlen Klängen setzt das Jerusalem Quartet die Maschinerie in Bewegung, stellt das aus vier Noten bestehende Motiv vor, das nach Schostakowitschs Initialen geformt ist (D-Es-C-H) und das Werk durchzieht. Sofort stellt sich eine dichte, schwere Atmosphäre ein,. In diesem strukturell relativ schlichten Opus kommt es auf Stimmung an, wie das Quartett konsequent vorführt.

Nur langsam entsteht ein echter musikalischer Prozess, den die vier israelischen Musiker konzentriert nachvollziehen. Das achte Streichquartett nutzt als thematisches Material neben dem Namensmotiv vor allem Zitate aus Schostakowitschs früheren Werken, weswegen die US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Sarah Reichardt zu Recht von einer "Geisterbeschwörung" geschrieben hat. Die Geister der Vergangenheit: etwa in Gestalt der wild folkloristischen Melodie aus Schostakowitschs zweitem Klaviertrio - hier im zweiten Satz. Dieser ist der Ausbruch aus den verhaltenen Grauflächen, die das Jerusalem Quartet im Kopfsatz gesehen hat. Aggressiv und mit halsbrecherischem Tempo jagen die vier Musiker hindurch, ohne Rücksicht auf Verluste, denn hier wie anderswo gilt, dass das israelische Quartett hundertmal eher ein Kratzgeräusch hinnimmt als einen im Ausdruck unpräzisen Ton.

Ein diabolischer Walzer ist das Sprungbrett für den abschließenden Block langsamer Musik. Einmal noch zitiert Schostakowitsch Eigenes, eine Arie aus seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk". Es ist ein letzter Einbruch von Licht in einen schwarzen Raum, innig ausgesungen von Kyril Zlotnikov am Cello, blitzsauber in höchster Lage. Am Ende bleibt nichts außer der musikalischen Signatur, gestaltet als langsame Fuge. Hier wird sie zum erschöpften Ausatmen nach aufreibenden Kämpfen. Was von außen als tönendes Dokument einer Depression wirkt, war für Schostakowitsch ein Ausweg aus einer jahrelangen Schaffenskrise. Und so scheint auch in der Interpretation des Jerusalem Quartet am Ende ein wenig Hoffnung zu bleiben. Darin liegt die Kunst des mittlerweile in Tel Aviv angesiedelten Ensembles - hinter den Notentext zu blicken, durch kreatives, farbenreiches Spiel eine eigene Deutung zum Klingen zu bringen.

Weniger problematisch, nicht durch komplexe autobiografische Verweise belastet, darum aber nicht unbedingt einfacher ist Beethovens zwölftes Streichquartett. Mit diesem beginnt, nach über zehn Jahren Pause in seiner Streichquartett-Produktion, die Spätphase, hier verdichtet sich die Meisterschaft des Komponisten teils zur Rätselhaftigkeit. Dass man dem nicht mit gespitzten Fingern begegnen muss, zeigt das Jerusalem Quartet. Beherzt musiziert öffnet sich der Es-Dur-Vorhang des ersten Satzes. Dahinter zum Vorschein kommen präzis konturierte Charaktere und kontrastierende Ideen. So ergeben sich immer wieder Spannungsmomente, die das Quartett ohne Angst vor herben Akzenten aufbaut.

Reine As-Dur-Schönheit wird im monumentalen Adagio aufgefächert, einem großen Gesang mit Variationen. Spürbar wird hier die Wärme, für die das Ensemble weltbekannt ist. Keine stromlinienförmige Streichermusik, sondern tiefer Ausdruck, der durch 25 Jahre gemeinsamen Musizierens gereift ist.

So sind auch die letzten Sätze keine Hürde. Hier zeigt das Quartett noch einmal sein tänzerisches Temperament, das zu zierlichen Pirouetten im Scherzo ebenso fähig ist wie zu kräftigem Aufstampfen im Finale. Dieses Quartett könnte man sich im höfischen Konzertsaal ebenso vorstellen wie in der Dorfschenke. Engagiert musizieren sie in jedem Fall, sodass am Ende alle Bögen um ein paar kostbare Haare ärmer geworden sind. Da ist es nur verständlich, den Abend mit einem langsamen Satz zu beschließen. Das Adagio aus Joseph Haydns Opus 20 Nummer 5 wirft noch einmal Licht auf die eminenten Fähigkeiten dieses Ensembles, wenn es darum geht, aus jeder Stimme ein Maximum an Ausdruck zu gewinnen.

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Quelle:
SZ vom 25.01.2022
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