Süddeutsche Zeitung

Bad Tölz:Ganz großes Theater

Die Tölzer Musikschule und das Gabriel-von-Seidl-Gymnasium bringen das Musical "Anatevka" auf die Bühne: Witzig, temperamentvoll und nie kitschig.

Von Petra Schneider

Bereits vor einem Jahr, kurz nach Beginn der Proben, hatte Direktor Harald Vorleuter das Ziel formuliert: Ein "Highlight in Bad Tölz" solle "Anatevka - Fiddler On The Roof" werden. Und so ist es gekommen. Was die jungen Leute bei der Premiere am Mittwoch im ausverkauften Kurhaus zeigen, ist großartig und geht über eine Schulaufführung weit hinaus: Schauspiel und Musik auf beinah professionellem Niveau verbinden sich mit Tanz, Licht und atmosphärischen Bühnenbildern zu einer dreistündigen Inszenierung, die von der ersten Minute an fesselt. Die Gemeinschaftsproduktion von Musikschule und Gabriel-von-Seidl-Gymnasium zeigt auch, dass Schule mehr sein kann als die Vermittlung von Faktenwissen.

"Anatevka", eines der erfolgreichsten Broadway-Musicals, entführt in die versunkene Welt eines jüdischen Schtetls Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Leben im fiktiven Anatevka ist hart und geprägt von Traditionen. Es wird gezankt und gefeiert, gearbeitet und gebetet. Parabelhaft thematisiert das Stück die ordnungs- und gemeinschaftsstiftende Funktion von Traditionen, deren Weiterentwicklung und ihren Zerfall. Es fragt nach Heimat und deren Verlust, nach Vorurteilen und Vertreibung. Das Thema ist ernst und hochaktuell, transportiert wird es in tragikomischer Form. Die politische Geschichte über eine verfolgte Minderheit spiegelt sich in der privaten des Milchmanns Tevje.

Tevje ist ein einfacher Mann, der den Herausforderungen des Lebens mit Humor und Gottesfurcht begegnet. Seine Frau schätzt und fürchtet er gleichermaßen, seine fünf Töchter liebt er. Sie zwingen ihn dazu, sich mit Traditionen auseinanderzusetzen: Sie lesen, obwohl sich das für jüdische Frauen nicht schickt, verloben sich mit Männern, die nicht von der Heiratsvermittlerin Jente (Franziska Deyerling) ausgesucht wurden. Auch Tevje hat Träume. "Wenn ich einmal reich wär", singt er im wohl bekanntesten Song des Musicals. Aber er respektiert die Traditionen, von denen niemand wisse, wie sie angefangen hätten, aber "jeder weiß, was er zu tun und zu lassen hat".

Tevje ringt mit sich und akzeptiert aus Vaterliebe vieles: Traditionsbrüche bei der Partnerwahl, arme und anarchistische Schwiegersöhne. Nicht verschmerzen kann er aber den Verrat an Religion und Volk - denn so sieht er die Heirat seiner Tochter Chava (Katharina Reinhardt) mit dem christlichen Russen Fedja (Michael Siegert). Für Tevje bricht eine Welt zusammen - ehe am Ende auch die Welt des Schtetls auseinanderbricht. "Ich weiß nicht warum", sagt der Wachtmeister (Anton Weinmann). "Überall auf der Welt sind Unruhe und Unruhestifter."

In einem Auszug durch die Zuschauerreihen verlassen die lieb gewordenen Figuren die Bühne. Mit welchem Einfühlungsvermögen und welcher Reife sich die jungen Schauspieler, teils erst 15, 16 Jahre alt, in ihre Figuren einleben, ist bemerkenswert. Die Sorgen des Vaters Tevje (großartig: Leif Eisenberg) um seine Töchter, sein inneres Ringen, die Kabbeleien mit seiner resoluten Frau Golde (Sophie Fast); Perchik (David Schumann), der Revolutionär und Hauslehrer, wortmächtig, wenn es um große Theorien geht, unbeholfen in Gefühlsdingen: All das ist ganz großes Theater; witzig, temperamentvoll, nie kitschig.

Monatelang haben sich die Schauspieler mit dem Stück beschäftigt. "Sogar in den Sommerferien oft ganze Tage lang", wie Regisseurin Elisabeth Artmeier-Mogl in der Pause erzählt. Kein Einziger der 80 Mitwirkenden sei abgesprungen. "Wir waren ein Team, und die Zusammenarbeit hat wunderbar funktioniert", sagt sie. Dass "beide Chefs", Musikschulleiter Harald Roßberger und Schuldirektor Vorleuter, sofort dabei gewesen seien und stets hinter dem Großprojekt gestanden hätten, "das ist in Tölz schon eine wahnsinnig schöne Situation", findet Artmeier.

Wesentlich zur fesselnden Wirkung des Musicals trägt natürlich die Musik bei. Sie reicht von berührenden Liebesliedern und klassischen Musical-Songs über rituelle Musik bis hin zu ausgelassenen jüdischen Tänzen. Der technische Anspruch an die Musiker ist hoch, die Tonarten sind zum Teil ungewohnt. Für das zehnköpfige Kammerorchester hat Roßberger Nachwuchstalente ausgewählt, darunter einige Jugend-musiziert-Preisträger, die die Herausforderung souverän meistern.

Am Ende büßt selbst die Musik an Kraft ein: Anatevka ist verlassen, das leitmotivische Thema, das Sophie Kiening auf der Geige spielt, bricht ab und lässt die Zuschauer nachdenklich zurück. Erst müssen sie sich fassen, dann brechen sie in tosenden Beifall aus.

Die beiden weiteren Aufführungen am 18. und 19. März sind bereits ausverkauft

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Quelle:
SZ vom 17.03.2017
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