Bilanz des Winters:"Immer mehr Leute am Berg, die da eigentlich nicht hingehören"

Bergwetterraum

Im Bergwacht-Zentrum Bad Tölz können Helfer in einem sogenannten Bergwetterraum unter authentischen Bedingungen trainieren.

(Foto: Bergwacht/oh)

Massenweise Schnee, aber Lifte und Seilbahnen standen still: Wie fällt die Bilanz der Bergwacht für diesen Winter aus? Die Pandemie machte sich bemerkbar - und immer häufiger auch die Selbstüberschätzung der Wanderer.

Von Petra Schneider

Der vergangene Winter, der in den Hochlagen der Berge immer noch nicht vorbei ist, wird in Erinnerung bleiben: Lifte und Seilbahnen standen still, Skiausflüge nach Österreich waren nicht möglich. Bereits im Herbst waren vielerorts Skitourenausrüstungen ausverkauft - und die Befürchtungen groß, dass auch der Corona-Winter massenhaft Ausflügler in die bayerischen Berge locken und den Einsatzkräften der Bergwacht Schweißperlen auf die Stirn treiben würde.

Nun, die Parkplätze an den Liftstationen waren tatsächlich voll, trotzdem fällt die Bilanz der Bergwacht Bayern recht entspannt aus: "Die Zahl der Unfälle in den Bergen spiegelt nicht das brutale Verkehrsaufkommen wider", sagte Bergwachtvorsitzender Otto Möslang am Donnerstag im Tölzer Bergwachtzentrum.

Trotz eines Winters, der von Mitte Januar an viel Schnee brachte, und trotz der vielen Skitourengeher und Rodler ist die Zahl der Einsätze zwischen 1. Dezember und 30. April im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gesunken: Waren es in den vergangenen fünf Jahren pro Wintersaison etwa 5000, mussten die Bergwachtler heuer nur 1349 mal ausrücken. Das liegt freilich auch daran, dass sich wegen der geschlossenen Lifte praktisch kein Ski- und Snowboardfahrer verletzte. Im Superwinter 2017/18 dagegen musste die Bergwacht knapp 3500 Skifahrer und 800 Snowboarder versorgen.

Dass Skitourenunfälle gestiegen sind, wundert angesichts der Karawanen nicht, die sich an schönen Tagen die Hänge hinaufbewegten. 189 Einsätze verzeichnet die Bergwacht, was im Vergleich etwa zum Winter 2018/19 einer Verdopplung entspricht. Bergwachtchef Möslang wirkte trotzdem nicht alarmiert. "Die Abstürze haben sich in Grenzen gehalten." Vor allem Skitourenanfänger seien auf den Pisten geblieben, zudem sei die Schneelage gut gewesen.

Wenn eine Rettung im ungesicherten Gelände nötig wird, bedeutet das für die Bergwacht oft große Herausforderungen. Zwei extreme Einsätze habe es in dieser Wintersaison gegeben, erklärte Bergwacht-Geschäftsführer Klaus Schädler: Am Hohen Göll in Berchtesgaden war ein erfahrener, 72-jähriger Skitourengeher abgestürzt, die Rettungsaktion auf 2400 Metern Höhe - bei Nebel, zweistelligen Minustemperaturen und einbrechender Dunkelheit - habe zehn Stunde gedauert. In Oberstdorf hätten vier Touristen aus Asien beim Aufstieg zur Enzianhütte einen Notruf abgesetzt, weil einer aus der Gruppe verunglückt war.

Dass in diesem Corona-Winter nicht nur mehr Skitourengeher unterwegs waren, sondern auch mehr Rodler, ließ sich etwa am Brauneck beobachten, wo viele Schlittenfahrer die nicht präparierten Skipisten nutzten. Dennoch sind seltener Unfälle passiert: 152 Mal musste die Bergwacht Rodlern helfen, 2017/18 waren es 359 Einsätze. "Rodler, die Lifte nutzen können, fahren zehnmal rauf und runter, zu Fuß nur einmal", erklärte Möslang.

Weniger Lawinenunglücke, aber mehr Tote: 47 Menschen sind gestorben

Tödliche Lawinenunfälle hat es in den bayerischen Bergen heuer nicht gegeben. Der Winter habe eher spät, aber dann mit Macht begonnen, erklärte Christoph Hummel vom Bayerischen Lawinenwarndienst. Durch den neuerlichen Wintereinbruch im März und den kalten April seien in den Hochlagen Nass- und Gleitschneelawinen immer noch möglich. Am Brauneck wurden zwei Skitourengeherinnen am Garlandhang teilverschüttet, konnten sich aber selbst befreien. Was die Lawinenlage angehe, wirke sich eine hohe Frequentierung durch Skitourengeher sogar stabilisierend aus, sagte Hummel: Viele Spuren festigen die Schneedecke.

Obwohl es heuer keine Lawinenopfer gab, hat sich die Zahl der Todesfälle in den bayerischen Bergen erhöht: 47 Menschen sind in diesem Winter gestorben, in den Vorjahren waren es jeweils um die 25. Todesursachen seien "internistische Notfälle" wie Herz-Kreislaufversagen gewesen, erklärte Pressesprecher Roland Ampenberger, "keine klassischen Bergunfälle".

Schlechte Vorbereitung, fehlende Erfahrung, Bilder in den sozialen Medien, "die nicht der alpinen Wirklichkeit entsprechen" - all das führe dazu, dass "immer mehr Leute am Berg sind, die da eigentlich nicht hingehören", so Ampenberger. Und damit steige auch die "Hilfsbedürftigkeit": 139 Menschen sind in diesem Winter unverletzt aus "einer Notlage" gerettet worden, 2016/17 waren es 73. Dass die Bergwacht immer öfter gerufen wird, wenn sich Menschen nicht mehr weiter trauen oder erschöpft sind, lege den Eindruck nahe, dass "der Griff zum Handy als kalkulierte Kraftreserve" gesehen werde, sagte Ampenberger.

Auffallend sei auch die Tendenz, dass Bergsport nicht mehr nur am Wochenende, sondern "365 Tage im Jahr, 24 Stunden" betrieben werde - und neuerdings auch zu Zeiten, an denen sich Bergtraditionalisten die Augen reiben. Statt zu Sonnenaufgang zieht es immer mehr zum Sundowner auf den Berg. Die Alarmierungen nach 16 Uhr hätten sich dadurch jüngst stetig erhöht, heuer waren es 364 Einsätze in den Abendstunden. Den erhobenen Zeigefinger will man bei der Bergwacht aber vermeiden. In den Bergen habe man noch mehr Freiheiten als in der "übrigen Lebenswelt", sagte Ampenberger. Diese gelte es zu erhalten. "Aber mit Rücksicht auf die Natur, mit Vorplanung und Verantwortungsbewusstsein." Bergwachtchef Möslang formuliert es so: "Wir sind Retter, keine Richter."

Für den kommenden Corona-Sommer rechnen die Bergretter wieder mit mehr Urlaubern dahoam und mit weiter steigenden Einsatzzahlen: Seit der Sommersaison 2017 sind sie von rund 2800 auf knapp 3500 gestiegen. Möslang sieht das pragmatisch: "Wo viele Leute sind, passiert halt auch mehr." Er sei seit über 55 Jahren bei der Bergwacht. Verändert habe sich vieles: Neue Trendsportarten, die neue Rettungstechniken und Geräte nötig machen. Der Klimawandel, der eine Zunahme extremer Wetterereignisse mit sich bringt. Gesellschaftliche Veränderungen, wie Home-Office, die das Bedürfnis nach Bewegung in der Natur erhöhen. "Was immer gleich geblieben ist, ist der Berg."

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