Es ist eine faszinierende Reise in ein düsteres, fremdes Universum und gleichzeitig ein kühnes gedankliches Experiment: Ist Intelligenz an uns Menschen gebunden, oder kann sie für sich allein, in kristalliner Form, zeitlos, friedlich und sinnvoll existieren? Diese Frage sucht Herbert W. Franke in dem eigens für die Tölzer Marionettenbühne geschriebenen Stück "Der Kristallplanet" zu ergründen.
Ein Astronaut, er heißt Melanchthon, hat sich darin allein auf die Reise in ein anderes Sonnensystem begeben und ist nicht mehr zurückgekehrt - Grund genug, sich auf die Suche nach ihm zu machen. Drei Raumfahrer, die mit dem Raumschiff Alpha in diese fremde, grenzenlose, ungewisse Welt eintauchen, machen den Vermissten ausfindig, aber Melanchthon ist nicht mehr derjenige, der er war, er ist selbst zum Kristall geworden. Und er beschwört die ungebetenen Besucher zurückzukehren. Denn sie sind Repräsentanten einer Welt, die von Egoismus und Kriegen beherrscht wird, sie sollen gehen, ohne etwas mitzunehmen, ohne Schaden anzurichten. Die Astronautin Elena aber bleibt, während ihre beiden Reisebegleiter alsbald wie aus einer schweren Betäubung erwachen und bemerken, dass sie sich wieder auf einer Umlaufbahn um die Erde befinden. Sie wurden in der fragilen, fremden Welt nicht akzeptiert. Und von der Erde aus werden sie von drei finsteren "Kontrolleuren" bereits genauestens beobachtet, denn sie haben wider das ausdrückliche Verbot kristallines Material mitgenommen. Nun wird klar: Sie sind von einem begehrlichen Zentralstaat gesteuert, sind am Ende selber nur Marionetten.
Seit nunmehr zehn Jahren steht der "Kristallplanet" auf dem Spielplan des Tölzer Theaters - ein beeindruckendes Bühnenjubiläum, mit dem Akteure zu Anfang nicht gerechnet hatten. Wundern muss man sich darüber nicht, denn inhaltlich ist das Stück bestürzend visionär in einer Zeit, da die Diskussion um künstliche Intelligenz zunimmt und in den Niederungen der Erde kaum irgendwo Frieden herrscht. Denn unter uns Menschen gibt es nicht jene Intelligenz, die frei von Begierden und Leidenschaften wäre. Um diesen Gedanken umzusetzen, hat Regisseur Albert Mali-Motta das traditionelle Puppenspiel weit hinter sich gelassen: Was er auf der unscheinbaren Tölzer Bühne auf engstem Raum in Szene setzt, ist nicht mehr und nicht weniger als eine ganz neue Kunstform: Es ist dreidimensionales Illusionstheater, das alle Register der modernen Computeranimation zieht und gleichzeitig seinen hölzernen, handgeschnitzten Protagonisten eng verbunden bleibt.
Maly-Motta, Tüftler und Perfektionist, formuliert die Entstehungsbedingungen des Stücks so: "99 Prozent Technik, ein Prozent Kunst". Wenn die Rechnung denn so stimmt, liegt das eine Prozent Kunst dank des technischen Aufwands freilich umso schwerer in der Waagschale. Was hinter den elektronisch generierten Kulissen geschieht, ist am Ende kein Geheimnis, die technischen Erklärungen sind Teil der Vorstellung: Die Welt hinter der Bühne wird geöffnet, Maly-Motta erklärt den Besuchern gern und im Detail, wie die virtuellen Bilder in den Bühnenraum projiziert werden, und wie sich die Landschaft des Kristallplaneten mit Hilfe von Mikrotricksequenzen realisieren lässt. Er verweist aber auch auf die vielen hundert Marionetten, die hinterm Vorhang wohlgeordnet auf ihren Auftritt warten. Nachmittags, in der Kindervorstellung, treten sie ganz ohne Animation auf.
Dass sich der "Kristallplanet" seit einem Jahrzehnt stetig wachsender Beliebtheit erfreut, ist auch dem Autoren zu verdanken: Franke, hochdekorierter, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus anerkannter Grandseigneur des Science-Fiction-Genres, der das Stück eigens für das Tölzer Marionettentheater geschrieben hat, zeichnet für den Erfolg ebenso verantwortlich. Einen kongenialeren, kreativeren Autoren hätte das Tölzer Team kaum finden können, denn Franke hat nicht nur Romane, Hörspiele und Science-Fiction-Stücke geschrieben, er ist als langjähriger Lehrbeauftragter für Computerkunst selbst einschlägig kundiger, technikaffiner Wissenschaftler.
Und er ist ein erklärter Freund des hiesigen Marionettentheaters, der die Vorstellungen nicht nur besucht, sondern an ihnen mitwirkt. Sein Bild taucht sogar im Stück selbst auf: Wie in einem Hologramm schwebt er über dem dunklen Bühnenhimmel - wohl eine kleine Verneigung vor ihm. Gast und Mitwirkender war er auch jetzt, im Jubiläumsjahr: Bewundernswert präsent, drahtig und rhetorisch brillant rezitierte der 90-Jährige aus seinem Buch "Die Zukunftsmaschine", einer Sammlung von Kurzgeschichten, die wärmstens zu empfehlen ist. Auch für solche Leser, die mit Science-Fiction sonst eher wenig anzufangen wissen.