Süddeutsche Zeitung

Bad Heilbrunn:Vom Zerfall

August Diehl liest beim Moosbrand-Festival der Stiftung Nantesbuch aus Thomas Bernhards letztem Roman "Auslöschung" mit punktgenauem Gespür und Witz, aber ohne übertriebenen Affekt

Von Paul Schäufele, Bad Heilbrunn

Blendend weiße Wände, dunkle Fensterläden, Staub und Erde und ein wenig Wald. Mitte der Sechzigerjahre hat Thomas Bernhard den Vierkanthof im österreichischen Salzkammergut gekauft. Sieben Jahre später kam noch das "Quirchtenhaus" in Ottnang bei Wolfsegg dazu. Wie alles in dieser Schriftsteller-Biografie hatte auch das den Charakter einer ausgeklügelten Inszenierung. Gewehre für nie stattfindende Jagden, Teller für eine Küche ohne Gäste. Und vor allem setzt sich hier einer in aller Künstlichkeit ins Verhältnis zu seiner Umwelt, zu Natur und (Un-)Kultur. Der Protagonist seines letzten Romans tut das auch. Im Rahmen des Moosbrand-Festivals liest der Schauspieler August Diehl aus Bernhards 1986 erschienenem Text, seinem Opus magnum und literarischem Vermächtnis "Auslöschung. Ein Zerfall".

Kein Roman, ein Zerfall. Das steht schon am Anfang fest. Beginnt das 600 Seiten umfassende Werk doch mit dem plötzlichen Tod der Eltern und des Bruders des Protagonisten Murau. Widerwillig macht sich dieser, der sich in Rom als Privatgelehrter und -lehrender eingerichtet hat, auf den Weg ins oberösterreichische Land zu Schloss Wolfsegg, einen Spaziergang vom Bernhard-Haus entfernt gelegen. Auf dem Schloss haben die Eltern gewohnt, dort werden sie nun begraben. Das ist alles. Was diesen Roman zu einem Glanzstück des Bernhard-Œuvres und der Weltliteratur überhaupt macht, ist die Sprachkraft, mit der Bernhard dieses dünne Handlungsgerüst auskleidet. Im Kern steht einer der ersten Sätze des Romans, gesprochen noch vor dem Unfalltod der Eltern, ein Satz, mit dem Murau seinen Ekel ausdrückt vor der Heimat und der Familie, aber auch seine Hilflosigkeit: "Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen." Ein gespreizter, strapazierter, im Zerfall begriffener Satz. Für Kleist, den Murau als einen der größten Stilisten deutscher Sprache verehrt, hat sich ein Bild aus einem Brief zur Beschreibung seines Stils verselbstständigt: Die Steine des Torbogens halten ohne Stütze, weil alle zur selben Zeit einstürzen wollen. Für Bernhards Satzungetüme gilt das mit einem Unterschied. Hier sind die Bögen so lang geworden, dass das Zentrum, der Schlussstein, nicht mehr auszumachen ist. Diese Texte sind keine leichte Lektüre.

Doch mit August Diehl haben sie einen idealen Interpreten gefunden. Die manische Ich-Prosa des "Erregungshochleistungsvirtuosen", mit der Leser und Hörer konfrontiert werden, liest der Schauspieler mit punktgenauem Gespür für den Rhythmus der späten Bernhard-Texte, abgeklärt, aber nicht kalt, mit Witz, aber ohne übertriebenen Affekt. Übertreibung ist dem Text schon eingeschrieben - als "den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist", so charakterisiert Murau sich selbst. Fiktion und Realität greifen ineinander, sodass die titelgebende Auslöschung nicht nur die Eltern des Ich-Erzählers betrifft. Indem Bernhards Murau in Bernhards Text "Auslöschung" davon schreibt, eben jenen Text "Auslöschung" zu schreiben, löscht er auch den Autor Bernhard aus. Der Name auf dem Umschlag wird zur Attrappe, zum bloßen Platzhalter. Vielleicht hat der (doch unleugbar einmal existente) Thomas Bernhard deshalb das Manuskript möglichst lange zurückgehalten. Und vielleicht lässt sich die von Diehl mit greifbarer Ironie vorgetragene Vorliebe Muraus, seine eigenen Manuskripte brennen zu sehen, auch so erklären, als Schutz davor, als Autor vereinnahmt zu werden.

Wie jeder Bernhard-Text bietet auch "Auslöschung" ein faszinierendes Nebeneinander von Scheußlichkeiten und grimmigem Humor, der sich vor allem in den (zahlreichen) Ausfällen gegen ganze Länder und ihre Bevölkerungen zeigt. So klagt der Erzähler Murau, von Diehl mit feiner Larmoyanz gezeichnet, über die groteske Geschmacklosigkeit der Österreicher. Dabei sei Österreich so ein schönes Land! Die Natur! Die Deutschen kommen nicht besser weg, als Biedermeier, die ihrem "Heilpraktiker" Goethe hinterherrennen, der philosophischen Luftnummer, dem "Gebrauchsdeutschen". Daneben stehen die Grausamkeiten der Murau-Eltern, die nach dem Krieg die "Kindervilla" ihres Anwesens ehemaligen Nazi-Größen zum Unterschlupf angeboten haben. Diese alt gewordenen Männer kommen auch zur Beerdigung aufs Schloss, was 1986, im Jahr der Waldheim-Affäre für einen der Bernhard-Skandale gesorgt hat.

Eine visuelle Ergänzung bieten die Filmausschnitte aus dem mit Bernhards Beteiligung entstandenen Film "Der Italiener". Der Regisseur Ferry Radax hat sich des Stoffs angenommen, der einiges mit dem später entstandenen Auslöschungs-Text gemein hat. Zuerst in Schwarzweiß, dann in schüchternen Farben geht es auch um eine Totenfeier auf einem Provinzschlösschen. Bartóks Streichquartette prallen auf einen verkitschten Totenmarsch der örtlichen Blaskapelle, so wie der Intellektuelle Murau auf seine Vergangenheit mit den Nazi-Eltern trifft. Doch stellt Bernhard ein optimistisches Ende in Aussicht. Das Schloss wird verschenkt, Murau stirbt in Rom. Das Publikum, das dank Diehls Lesekunst in zwei Stunden Freundschaft mit der sonderbaren Figur geschlossen hat, freut sich.

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SZ vom 21.09.2020
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