Der Weg zu einer neuen Niere hat Elisabeth Michalik mitten ins oberbayrische Alpenpanorama geführt. Um die schneebedeckten Berghänge wabert der Nebel, sanft in dieser Postkarten-Idylle eingebettet liegt die m&i-Fachklinik Bad Heilbrunn, die sich auf Akutmedizin und medizinische Rehabilitation spezialisiert hat. Eine der vier Fachabteilungen ist die Nephrologie und Transplantationsnachsorge, schon im Eingangsfoyer steht in der Ecke ein großes Banner, welches für den Organspendeausweis wirbt. Reha-Angebote gibt es für jede Art der Transplantation, besonderes Augenmerk liegt hier jedoch auf den Nieren.
Das Organ ist insbesondere für die die Entgiftung des Körpers zuständig, zudem regelt es den Blutdruck und den Flüssigkeitshaushalt des Menschen. Schädliche oder überflüssige Stoffe werden von den Nieren erkannt und durch Urinproduktion wieder ausgeschieden. Laut der Deutsche Stiftung Organtransplantation gibt es vielfältige Gründe für ein langsames Nachlassen der Nierenfunktion, am häufigsten wird jedoch die Diagnose der chronischen oder der zystischen Nierenerkrankung gestellt. Erstere ist zumeist auf Diabetes und Bluthochdruck zurückzuführen, letztere vor allem erblich bedingt. Die Krankheit breitet sich schleichend aus und kann für die Betroffenen jahrzehntelang nur marginale Einschränkungen bedeuten. Versagen die Nieren indes komplett, gibt es nur noch zwei Handlungsmöglichkeiten: Dialyse oder Transplantation.
Elisabeth Michalik ist seit sieben Jahren auf eine regelmäßige Blutreinigung angewiesen, nun steht sie auf der Warteliste für eine Spenderniere. Für einen dreiwöchigen Kuraufenthalt ist die 69-Jährige aus Fürstenfeldbruck in die Heilbrunner Fachklinik gereist, mit ihr am Tisch sitzen Mitpatient Arnold Peter Klein sowie Chefärztin Doris Gerbig und Oberarzt Marc Albersmeyer. Die kleine Gruppe will über die Bedeutung von Organspenden sprechen. Michalik und Klein berichten von ihren persönlichen Krankheitsbiografien, Gerbig und Albersmeyer ergänzen mit fachlicher Expertise und einem Stapel an ausgedruckten Statistiken.
"Mein Leben hat sich völlig verändert", erzählt Michalik. Sie beschreibt sich als ehemals offene und kontaktfreudige Frau, die mit beiden Beinen fest im Berufsleben verankert war. Sie hatte eigentlich nur eine Woche Urlaub machen wollen, doch ein regulärer Arztbesuch ließ sie nicht zur Arbeit zurückkehren: Ihre erblich bedingten Zystennieren funktionierten nicht mehr ausreichend. "Von heute auf morgen wurde ich aus meiner gewohnten Welt hinausgerissen und in ein Umfeld gebracht, auf das ich nicht vorbereitet war."
Die Behandlung in Dialysezentren, wo die Betroffenen drei Mal die Woche über mehrere Stunden ihr Blut gereinigt bekommen, bildete plötzlich einen unverrückbaren Rahmen für ihren Alltag. Zudem zermürbe einen das Verfahren, sagt Michalik. Je länger es daure, desto massiver baue der Körper ab. Sie ringt immer wieder um Worte, man spürt, wie sie mit ihrer Rolle als Erkrankte zu kämpfen hat. Mehrmals kommt sie auf die psychischen Folgen zu sprechen, erzählt von zunehmender Distanzierung und dem Gefühl, dass auch ihrem Umfeld nach sieben Jahren die Luft langsam ausgehe: "Das Problem ist, dass sich der Zustand nur verschlechtert." Ihre einzige Hoffnung sei nun die Transplantation einer Spenderniere.
Arnold Peter Klein gehört zu den Glücklichen, die eine bekommen haben. Bereits die zweite fremde Niere wurde ihm eingesetzt, beide Transplante waren Lebendspenden aus seinem persönlichen Umfeld. Kleins Beispiel zeigt, dass, auch bei einer Transplantation, die als Ziel der Behandlung gilt, das gespendete Organ immer einen Fremdkörper darstellt und dass selbst eine erfolgreiche Operation die Gefahr einer späteren Abstoßung birgt. Um die neue Niere nicht zu verlieren, müsse er täglich Medikamente einnehmen, erzählt er, die Nebenwirkungen der sogenannten Immunsuppressiva reichen bei ihm von Hautkrebs bis zu schweren Gichtanfällen. "Aber lieber das als keine Niere." Im Vergleich zur Elisabeth Michalik sei er in seinem Alltag deutlich weniger eingeschränkt, Urlaub und Freizeit könne er weitgehend planen, nur für eine Vollzeitstelle fehle ihm die Kraft: "Ich bin häufig erschöpft und habe Konzentrationsprobleme."
Dass man wie Klein gleich zweimal eine Nierenspende bekommt, sei die absolute Ausnahme, betont Doris Gerbig und spricht von einem "Lottogewinn". Gerbig ist Chefärztin in der Abteilung Innere Medizin-Nephrologie/Transplantationsnachsorge in Bad Heilbrunn, mittlerweile ist sie seit mehr als 30 Jahren im Geschäft. Energisch unterfüttert sie die Erzählungen der Betroffenen mit Daten und Fakten, nickt beipflichtend und macht aus ihrem Frust über die Situation in Deutschland keinen Hehl: "Wir sind die letzten Mohikaner, die immer noch die Entscheidungslösung haben." In der Bundesrepublik sei eine postmortale Organspende nur möglich, wenn Verstorbene vorab aktiv einer Transplantation zugestimmt hätten. In anderen Ländern hingegen sei man automatisch gelistet, könne aber dagegen problemlos Widerspruch einlegen. "Im Endeffekt ist es die gleiche Entscheidung", sagt Gerbig, doch die Folgen der unterschiedlichen Ausgangsposition seien gravierend. So warte man in Österreich oder Spanien nur ein bis zwei Jahre auf ein Transplantat — in Deutschland durchschnittlich acht. "Für die Patienten ist das ein auslaugender Prozess", sagt Gerbig. "Auf der Warteliste wird man nicht gesünder."
"Ich sehe darin eklanantes Exekutivversagen"
Oberarzt Marc Albersmeyer kann über die vergangene politische Debatte ebenfalls nur den Kopf schütteln. Vor drei Jahren entschied sich der Deutsche Bundestag gegen die -von den beiden favorisierte — Widerspruchslösung und beschloss stattdessen vermehrt auf Aufklärung zu setzen. Um eine unkomplizierte Registrierung möglich zu machen, sollte zudem ein Onlineregister ins Leben gerufen werden, anvisierter Startschuss war März 2022. Passiert ist bislang nichts. "Ich sehe darin ein eklatantes Exekutivversagen", entrüstet sich Albersmeyer. "Ein verabschiedetes Gesetz wird nicht umgesetzt und es schämt sich noch nicht mal jemand dafür." Von einer Verbesserung der Lage könne daher man in keiner Weise sprechen, sagt der Oberarzt und verweist mit Nachdruck und Textmarker auf herausgegebene Statistiken der Deutschen Stiftung Spendenorganisation: Rückläufige Zahlen bei postmortalen Organspenden im Jahr 2022, bei den Nieren ein Einbruch von sieben Prozent im Vergleich zum Jahr 2021.
Weniger verfügbare Transplante bedeuten nicht nur längere Wartezeiten, sondern auch weniger Transplantationen—und damit ein Verlustgeschäft für eigens darauf spezialisierte Kliniken. "Am Ende müssen Zentren schließen, da die Mindestmenge an Aufträgen nicht erreicht werden konnte", sagt Gerbig. Albersmeyer teilt ihre Befürchtungen. An den politischen Rahmenbedingungen könnten die beiden nichts ändern. Was bleibe sei der Appell an die Bevölkerung. "Es ist zwar kein schönes Abendbrot-Thema", sagt er, "aber jeder und jede sollte sich einmal in Ruhe mit seinen Angehörigen zusammensetzen und darüber sprechen."
Gerbig und Albersmeyer wünschen sich, dass das Thema Organspende positiv besetzt wird, im Blickwinkel derer, die davon profitieren. Denn trotz der Missstände lieben die beiden ihre Arbeit in der Klinik. "Eine erfolgreiche Transplantation ist großartige Medizin", sagt Gerbig. "Man sieht, wie es dem Menschen Zug um Zug wieder besser geht." Darauf hofft auch Elisabeth Michalik.