Am 23. Mai des vergangenen Jahres haben rund 300 Leute in der Tölzer Marktstraße ein Zeichen für die Menschenwürde gesetzt. Sie haben sich auf das Kopfsteinpflaster gelegt, einander aufgeholfen, um so ein Zeichen für Wertschätzung und Respekt zu setzen. Anlass war der 70. Jahrestag des Grundgesetzes, das bereits im ersten Satz die Grundlage menschlichen Zusammenlebens vorgibt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." An diesem Samstag feiert das Grundgesetz seinen 71. Geburtstag, und auch dieses Mal sollte eigentlich an jenen bemerkenswerten Grundsatz erinnert werden.
Verena Peck und Brigitte Bürkel, die bereits den Flashmob im vergangenen Jahr mit organisiert hatten, wollten heuer mit einer Mahnwache auf die Veranstaltung des Vorjahres aufbauen. Aus dem "Aufstehen für Menschenwürde" sollte ein "Wofür stehen wir ein?" werden. Bürgerinnen und Bürger sollten aufgerufen werden, darüber nachzudenken, was Würde für sie bedeutet, wie wichtig das Grundgesetz für sie ist und wie sich jeder für gegenseitigen Respekt einsetzen kann. Per Mikro sollten die Teilnehmer ihre Gedanken äußern, so die Idee. Die Veranstaltung war bereits beim Landratsamt beantragt, dann haben sich Peck und Bürkel anders entschieden: Die jüngsten Ereignissen bei den Corona-Demonstrationen in verschiedenen deutschen Städten hätten sie dazu bewogen, ihr Vorhaben fallen zu lassen, erzählen die beiden. Denn bei den Demos hatten sich unheilvolle Allianzen zwischen Bürgern, die sich wegen der Corona-Beschränkungen Sorge um die Grundrechte machen, und Verschwörungstheoretikern, Esoterikern oder Rechtsextremisten gebildet. "Wir wollten nicht Gefahr laufen, in dieses Fahrwasser zu geraten", sagt Peck. Weil sie den Antrag wegen der aktuellen Ereignisse kurzfristig zurückgezogen haben, sei ein alternatives Konzept nicht mehr möglich gewesen. Bürger sollten sich aber dennoch bewusst machen, welch hohes Gut das Grundgesetz sei, wünschen sich die beiden. Denn die Betonung der Würde des Menschen sei keinesfalls selbstverständlich. "Das gibt es nicht in jeder Sprache, auch nicht in jedem europäischen Land", sagt Bürkel.
Die 56-jährige evangelische Religionslehrerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie hat sich viele Gedanken über das Thema gemacht. Vor allem ein Satz des Neurobiologen Gerald Hüther habe sie beeindruckt: "Wer sich seiner Würde bewusst ist, ist nicht verführbar." Ihrer Meinung nach sollten sich die Kirchen stärker positionieren und der Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai zu einem gesetzlichen Feiertag werden. Peck, Kreisjugendpflegerin und Vorsitzende der "Komischen Gesellschaft", hielte einen Feiertag am Tag des Grundgesetzes ebenfalls für sinnvoll. Denn bereits im Artikel 1 sei schriftlich verankert, "worauf unser Leben und unsere Gesellschaft fußen soll", sagt die 43-Jährige. Jeder Mensch habe Respekt verdient.
Wenn man sich das zu Herzen nehme, dürfe man sich auseinandersetzen und aneinander reiben. "Das ist nicht bequem, aber die Voraussetzung für Demokratie."